Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Eheschwüre verletzen würde. Ich habe nie versucht, sie zu falschem Handeln zu verleiten. Deshalb solltet Ihr noch einmal über das nachdenken, was Ihr eben gesagt habt. Solche Vorwürfe können großen Schaden anrichten.«
Sedric kniff die Augen zusammen und sagte leise: »Meine Vorwürfe basieren auf dem, was ich gesehen habe. Ich empfinde eine tiefe Verbundenheit zu Alise aufgrund einer langen Freundschaft. Ich sage solche Dinge nicht leichtfertig. Selbst wenn ihr beide unschuldig wäret, so hat es nicht mehr diesen Anschein. Ihr sehr euch frühmorgens und redet bis spät in die Nacht – gehört sich das etwa für eine verheiratete Frau? Ich bin mit leichtem Schlaf und vorzüglichen Ohren gestraft. Deshalb weiß ich sehr wohl, dass Alise, nachdem sie mir Gute Nacht gesagt hat und wir in unsere Kammern gegangen sind, wieder auf Deck gegangen ist, um Euch zu sehen. Ich habe Euch zusammen reden hören.«
»Hat sie etwa geschworen, nach Mitternacht nicht mehr zu reden?«, fragte Leftrin beißend. »Denn wenn sie das getan hat, dann gebe ich zu, dass sie ihren Schwur mit meiner Beihilfe gebrochen hat.«
Sedric funkelte ihn böse an. Leftrin nahm einen weiteren Schluck und musterte den Bingtowner über den Rand des Bechers hinweg. Sedric schien sehr um Beherrschung bemüht zu sein, und als er schließlich etwas erwiderte, klang seine unablässige Höflichkeit etwas angestrengt. »Für eine Dame wie Alise, die mit einem vornehmen und wohlhabenden Händler aus Bingtown verheiratet ist, hat der Anschein ebenso große Bedeutung wie die Wirklichkeit. Wenn ich weiß, dass sie gestern spät abends noch einmal aufgestanden ist, um Euch aufzusuchen, dann wissen andere auf diesem Schiff das bestimmt auch. Sollte ein derartiges Gerücht nach Bingtown gelangen, würde dies ihren Ruf in Mitleidenschaft ziehen.«
Nachdem Sedric seine Rede beendet hatte, wandte er sich dem Ufer zu. Die meisten Hüter waren aufgewacht, und einige versammelten sich ums Feuer, um sich nach der Kälte der Nacht aufzuwärmen und das Frühstück warm zu machen. Andere hockten bei den flachen Sandgruben, die sie gestern ausgehoben hatten, um das von der Erde gefilterte Wasser zum Waschen und Kochen zu schöpfen. Leftrin fiel auf, dass die Drachen sich noch nicht rührten. Als Geschöpfe, die Wärme und Sonne liebten, würden sie so lange schlafen wie die Hüter sie ließen. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie sich erst mittags erheben. Leftrin starrte sie an und wünschte sich, dass sein Leben ebenso einfach wäre wie das der Drachen. Aber das war es nicht.
Der Kapitän zwang sich, die Finger um den Henkel des Bechers zu lockern, bevor er ihn noch zerbrach. »Ich will ganz offen mit Euch sein, Sedric. Es ist nichts passiert. Sie kam an Deck, während ich meine nächtliche Runde gemacht habe. Also haben wir ein bisschen miteinander geplaudert. Sie hat mich auf meiner Runde begleitet. Wir haben die Vertäuung der Fracht und des Ankers überprüft. Ich habe ihr ein paar Sternbilder gezeigt und ihr erklärt, wie sich ein Seemann anhand der Sterne orientieren kann. Dann habe ich ihr die Namen einiger Nachtvögel genannt, die wir gehört haben. Wenn etwas davon Euer Moralempfinden verletzt, ist das Euer Problem. Aber nicht meines und auch nicht das von Alise. Ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste.«
Obwohl seine Worte rechtschaffen klangen, durchfuhr ihn schmerzhaft ein Gefühl von Schuld. Er dachte an die Augenblicke, als seine Hand auf ihrer gelegen hatte, weil er ihr gezeigt hatte, wie man einen Palstek knotet. Er hatte ihr die Hände auf die weichen Schultern gelegt, um sie so zu drehen, dass sie Sas Pflug am südlichen Firmament sah. Und sehr spät oder sehr früh, je nachdem wie man es sehen wollte, als sie ihm eine Gute Nacht gewünscht hatte und in ihre Kammer gegangen war, hatte er sich vor ihrer Tür an die Reling gelehnt, auf den Fluss geschaut und über all das gegrübelt, was hätte sein können. Und dann hatte er sich hinreißen lassen, von den Dingen zu träumen, die noch immer sein konnten, wenn er den Mut finden würde, sich ihr zu erklären und ihre Leidenschaft groß genug wäre, sich darauf einzulassen. Durch die Reling unter seinen Händen spürte er das Wechselspiel zwischen dem sanften Schlagen der Wellen und dem Widerstand des Kahns. Da war es ihm so vorgekommen, als wäre er ein Fluss und als wäre Alise ein Schiff, das in seine Strömung geraten war. War er stark genug, um sie mit sich zu reißen?
Die
Weitere Kostenlose Bücher