Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Sanftheit, mit der Sedric sich wieder zu Wort meldete, überrumpelte Leftrin. »Seht, guter Mann. Ich bin nicht blind. Sollte es einen Menschen auf diesem Schiff geben, der sich Eurer Liebe ihr gegenüber nicht bewusst ist, dann, nun ja, dann hat er weder Herz noch Verstand. Eure Mannschaft weiß es, Euer Jägerfreund weiß es. Und da ich Alise sehr gut kenne, weiß ich, dass sie sich auf gefährlichem Boden bewegt. Ihr seid ein Mann von Welt, der viel herumkommt und die unterschiedlichsten Frauen kennenlernt. Aber vielleicht habt Ihr noch nie eine kennengelernt, die so behütet ist wie Alise. Aus dem Haus ihres Vaters zog sie direkt in das ihres Ehemanns. Dieser war ihr erster und einziger Verehrer. Auf gewisse Weise passen sie und Hest sehr gut zusammen. Er ist reich und kommt für all ihre Bedürfnisse auf, vor allem aber gibt er ihr die materiellen Mittel und die Zeit für ihre geliebten Studien. Einen Mann wie Euch hat sie noch nie gesehen. Für eine Frau aus Bingtown müsst Ihr überlebensgroß erscheinen. Wenn Eure Bewunderung sie dazu verleitet, die gesellschaftlichen Konventionen über Bord zu werfen, wird sie nachher die Quittung dafür bekommen, nicht Ihr. Und das heißt für sie: Schande und Ächtung. Wahrscheinlich sogar Scheidung, worauf sie, von der Gesellschaft unwiderruflich geschmäht, ins Haus ihres Vaters ziehen müsste. Dieser ist nicht wohlhabend. Wenn Ihr fortfahrt, Ihr nachzustellen, werden die Leute davon erfahren, selbst wenn es Euch nicht gelingt, sie zu erobern. Ihr würdet Ihr Leben zerstören, sie zu einer Existenz in bescheideneren Verhältnissen verdammen, die Forschungen, die sie so sehr liebt, wären ihr nicht mehr möglich. Ich möchte nicht grob klingen, guter Mann, aber seid Ihr das wert? Wollt Ihr mit dieser Liebelei fortfahren, die Alises Untergang bedeuten wird? Ihr werdet einfach weiterziehen. Verzeiht mir, aber jedermann weiß, wie Seemänner in solchen Angelegenheiten handeln. Aber sie wird daran zugrunde gehen.«
Nachdem Sedric seine Meinung dazu geäußert hatte, wandte er sich von Leftrin ab, als wolle er ihm die Möglichkeit geben, darüber nachzudenken. Inzwischen waren auch zwei Drachen wach und trotteten schwerfällig zum Wasser. Fasziniert starrte Sedric sie an, als habe er den Kapitän neben sich vergessen.
Leftrins Brust war von Wut und Entsetzen zerrissen. Erst war er rot geworden, dann war ihm alles Blut aus den Wangen gewichen. Sowohl körperlich als auch seelisch vermochte er so manches wegzustecken, aber von Sedrics Worten war ihm übel geworden. Sprach der Mann die Wahrheit? War es tatsächlich unmöglich, dass dies für Alise nicht in einer Katastrophe endete? Mühsam bewahrte er die Fassung und antwortete.
»Ich glaube nicht, dass an Bord dieses Schiffes jemand ist, der nach Bingtown möchte oder dort gar irgendwelchen Tratsch über eine Dame unter die Leute bringen will. Ihr seid die einzige Ausnahme, und wenn Ihr tatsächlich Alises Freund seid, so wie Ihr beteuert, dann werdet Ihr keine hässlichen Unwahrheiten über sie verbreiten. Ich habe nicht die Absicht, der Dame Schande zu machen. Und ich glaube, Ihr tut ihr Unrecht, wenn Ihr sie verdächtigt, ihrem Gatten untreu zu sein.« Er spürte, dass der letzte Punkt nur allzu sehr der Wahrheit entsprach – auch wenn er sich noch so sehr wünschte, dass sie wenigstens darüber nachdenken würde.
»Ich bin Alises Freund. Wäre ich das nicht, hätte ich meine Worte wahr gemacht, hätte sie auf diesem Schiff alleine gelassen und wäre nach Bingtown zurückgekehrt. Doch ich wusste, dass es ihr Ruin sein würde, wenn ich dies getan hätte. Der einzige Grund, weshalb ich hier bin, ist, ihren makellosen Ruf zu schützen. Bildet Euch nur nicht ein, mir würde diese Irrfahrt Spaß machen! Nein. Ich bin nur wegen Alise dabei, weil ich sie beschützen will. Ihr Ehemann ist nicht nur mein Arbeitgeber, sondern auch ein guter Freund von mir. Vielleicht macht Ihr Euch die Mühe, Euch einmal kurz vorzustellen, in welch eine unhaltbare Lage Ihr mich bringt. Soll ich Alise Würde respektieren und von jeglichem Tadel absehen? Oder soll ich die Würde meines Arbeitgebers respektieren und Euch fordern?«
»Mich herausfordern?« Leftrin war vollkommen entgeistert.
Sedric beeilte sich zu erklären: »Natürlich mache ich das nicht. Ich glaube nicht, dass dies nötig sein wird. Nachdem ich Euch die Lage im Guten auseinandergesetzt habe, seht Ihr bestimmt ein, dass es nur eine einzige Lösung gibt.«
Er zögerte, als
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