Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter

bereits aufgegangen war, erhob sie sich und rief eine Zofe. Ihre Zofe, um genau zu sein. Ihre eigene, ganz persönliche Zofe, ein hübsches Mädchen, dem man nur an einer kleinen Tätowierung neben der Nase in Form einer Katze ansah, dass sie einst eine Sklavin gewesen war. Das Mädchen brachte ihr heißen Tee und einen Kräutersud, um sich die Augen zu waschen. Dann servierte sie ihr das von Alise gewünschte warme Frühstück auf einem zauberhaft lackierten Tablett. Während Alise aß, legte das Mädchen eine Auswahl Kleider aus, von denen sie sich eines aussuchen konnte.
    Am Nachmittag schwebte Alise zur ersten von mehreren Teegesellschaften, die zu Ehren des frisch vermählten Paars ausgerichtet wurden. Dabei trug sie ein bescheidenes, blassgrünes und mit weißen Spitzen besetztes Kleid. Doch die Schlichtheit des Kleids täuschte über seine große Kostbarkeit hinweg. Sie lächelte fröhlich und errötete possierlich, wenn eine der Freundinnen ihrer Mutter ihr flüsternd bescheinigte, dass ihr die Ehe gut zu bekommen schien. Der Umstand, dass Hest zwar schick gekleidet, aber bleich und mit eingefallenen Augen auftauchte, setzte ihrer Zufriedenheit die Krone auf.
    Er stand in der Tür des Salons, war verspätet erschienen und hielt offenbar nach ihr Ausschau. Als sein Blick sie traf, lächelte sie und winkte ihm mit den Fingern zu. Er wirkte erstaunt über ihr offenkundiges Wohlbefinden und über die Lässigkeit, mit der sie über seine geflüsterte Entschuldigung wegen seines »Zustands« in der letzten Nacht hinwegging. Sie nickte lediglich und schenkte all ihre Aufmerksamkeit der Gastgeberin und den Gästen, die sich zu ihren Ehren versammelt hatten. Und sie gab sich alle Mühe, charmant, ja sogar geistreich zu sein.
    Es erschien ihr eigentümlich, dass dies, wie sie entdecken musste, gar nicht so schwer war. Wie mit jeder Wahlmöglichkeit war es auch hier so, dass die Welt plötzlich einfacher aussah, wenn die Entscheidung erst einmal getroffen war. Und als die Dämmerung heraufgezogen war, war sie fest ent schlossen, ihren Teil des Handels bis in jedes Detail zu erfüllen. Und sie würde dafür sorgen, dass es Hest ebenso tat.
    Am nächsten Tag bestellte sie die Schreiner, die das aparte Nähzimmer neben ihrem Schlafzimmer in ihre persönliche Bibliothek umwandeln sollten. Den winzigen weißen und vergoldeten Tisch ersetzte sie durch einen größeren Schreibtisch aus schwerem, dunklem Holz, versehen mit zahlreichen Schubladen und Fächern. In den kommenden Wochen wurde den Buchhändlern und Antiquitätenverkäufern schnell klar, dass sie Neuzugänge zu ihrem Sortiment immer erst Händlerin Finbok zur Durchsicht vorlegen mussten, bevor sie sie der breiten Öffentlichkeit anboten. Nach kaum einem halben Jahr waren Alises Regale gut mit Büchern und Schriftrollen gefüllt. Wenn sie sich schon verkauft hatte, dann wenigstens zu einem hohen Preis.

Siebzehnter Tag des Regenmonds

    Siebzehnter Tag des Regenmonds
    IM ACHTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES ERLAUCHTEN
UND PRÄCHTIGEN SATRAPEN COSGO
    IM ZWEITEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
    Von Detozi, Vogelwart in Trehaug,
    an Erek, Vogelwart in Bingtown
    In den beiliegenden Rollenfutteralen befinden sich zwei Anfragen. Die erste richtet sich an die Öffentlichkeit: Ob Seeleute oder Bauern die Drachin Tintaglia gesichtet haben, die seit Monaten nicht mehr in der Regenwildnis gesehen wurde. Die zweite ist eine Nachricht an das Händlerkonzil Bingtowns, eine Erinnerung an die Fälligkeit der Zahlungen zur Unterstützung der Pfleger und Jäger, die für die jungen Drachen sorgen. Es wird eine rasche Antwort erbeten und erwartet.
    Erek,
    mein tiefstes Beileid für Euern Verlust. Ich weiß, mit welcher Freude Ihr der Hochzeit mit Fari entgegengesehen habt. Von ihrem Tod zu erfahren, erfüllt mich mit unsäglicher Trauer. Dies sind schwere Zeiten für uns alle.
    Detozi

Zehnter Tag des Keimmonds

    Zehnter Tag des Keimmonds
    IM ACHTEN JAHR DER HERRSCHAFT DES ERLAUCHTEN
UND PRÄCHTIGEN SATRAPEN COSGO
    IM ZWEITEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
    Von Erek, Vogelwart in Bingtown,
    an Detozi, Vogelwart in Trehaug
    In der versiegelten Rolle eine Nachricht an das Regenwildkonzil in Trehaug und Cassarick vom Händlerkonzil Bingtowns. Es wird eine vollständige Aufstellung aller Gelder erbeten, die bereits für die Pflege der Jungdrachen gezahlt wurden. Ohne eine solche Abrechnung werden keine weiteren Geldmittel eingetrieben und dem Konzil von Cassarick