Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
von mir wollt.«
Sinad schüttelte den Kopf. »Ihr missversteht mich. Ich werde Euch nicht verraten, ob bei dem Handel Gold oder Gewalt im Spiel war, nur so viel: Das Geschäft ist bereits abgewickelt, und ich habe alles über Euch und Euer Schiff erfahren, was ich wissen muss. Lasst uns offen miteinander reden. Der Großfürst von Chalced ist nicht mehr jung. Mit jedem Jahr, nein, mit jeder Woche leidet er unter einem neuen Gebrechen. Die erfahrensten und angesehensten Heiler Chalceds haben versucht, ihm zu helfen. Viele mussten wegen ihres Versagens sterben. Womöglich ist es nur ein Winkelzug, doch sie behaupten jedenfalls, nur Medizin aus Drachenreliquien könne noch auf Besserung und ein langes Leben des Großfürsten hoffen lassen. Dabei geben sie sich untröstlich, weil sie die nötigen Zutaten nicht zur Hand haben. Gleichzeitig beteuern sie, sie würden die Tränke, die ihm Jugend, Schönheit und Kraft zurückbringen werden, unverzüglich brauen, sobald die nötigen Zutaten beschafft sind.« Der Kaufmann seufzte. Er wandte den Blick zu dem kleinen Fenster und starrte ins Weite. »Und so trifft sein Zorn nicht mehr die Heiler, sondern konzentriert sich auf die Kaufmannsfamilien Chalceds. Wieso sie ihm nicht herbeischaffen, was er so dringend benötigt, fragt er. Sind sie etwa Verräter? Wünschen sie seinen Tod? Anfangs hat er uns Gold für unsere Bemühungen versprochen. Doch als sich Gold als wirkungslos erwies, hat er sich auf die Währung besonnen, die immer gilt: Blut.« Sein Blick glitt wieder zu Leftrin zurück. »Versteht Ihr, was ich Euch erklären möchte? Begreift Ihr, dass Chalcedaner, so sehr Ihr sie auch verachten mögt, ihre Familien genauso lieben wie Regenwildleute? Dass sie ihre ergrauten Eltern genauso wertschätzen wie ihre zarten jungen Söhne? Wisst, mein Freund, dass ich alles Erforderliche tun werde, um meine Familie zu schützen.«
In den Augen des Chalcedaners hielten sich kalte Rücksichtslosigkeit und nackte Verzweiflung die Waage. Der Mann war gefährlich. Er mochte mit leeren Händen an Bord Teermanns gekommen sein, doch war er keineswegs unbewaffnet, wie Leftrin erkennen musste. Der Regenwildkapitän räusperte sich und sagte: »Wir werden einen angemessenen Preis für das Getreide festsetzen, und ich glaube, dass unser Geschäft damit abgeschlossen ist.«
Sinad lächelte ihn an. »Als Preis für das Getreide verlange ich, dass Ihr mich auf Eure Reise flussaufwärts mitnehmt und mich Euren Landsleuten empfehlt. Wenn Ihr mir nicht selbst beschaffen könnt, was ich brauche, dann werdet ihr mich mit denjenigen bekannt machen, die das können.
Und als Gegenleistung erhaltet Ihr nicht nur das Getreide, sondern auch mein Schweigen über Euer Geheimnis. Könnt Ihr Euch einen besseren Handel vorstellen?«
Das Frühstück war köstlich gewesen, die Zubereitung ohne Fehl. Die üppigen Reste einer Mahlzeit, die eigentlich für drei Personen gedacht war, standen noch auf dem mit blütenweißer Wäsche gedeckten Tisch. Im vergeblichen Bemühen, die Speisen warm zu halten, waren die Platten abgedeckt. Alise saß allein am Tisch, doch voller Diensteifer hatte man ihren Teller bereits abgetragen. Sie nahm die Teekanne und schenkte sich eine weitere Tasse ein. Dann wartete sie.
Sie kam sich wie eine Spinne vor, die am Rand ihres Netzes darauf lauert, dass sich darin eine Fliege verfängt. Für gewöhnlich blieb sie nach den Mahlzeiten nicht sitzen. Hest wusste das, und sie vermutete, dass er deshalb oft zu spät erschien, wenn er zu Hause war. Heute hoffte sie, ihn abzupassen und zur Rede zu stellen. Sie musste nur lange genug warten, bis auch er zum Frühstück kam.
In letzter Zeit ging er ihr absichtlich aus dem Weg, nicht nur bei Tisch, sondern überall, wo die Gefahr bestand, dass sie allein miteinander waren. Ihr bereitete das kein Kopfzerbrechen. Im Gegenteil war es ihr sogar recht, wenn sie in Ruhe essen konnte, und noch lieber war ihr, wenn er sie nachts im Bett nicht belästigte. Leider war das in der letzten Nacht nicht der Fall gewesen. Zwischen Mitternacht und Morgengrauen war Hest in ihr Zimmer gekommen, hatte die Tür so kräftig zugeschlagen, dass sie von dem Lärm aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt war. Er hatte nach Tabak und teurem Wein gerochen. In ihrem Zimmer hatte er den Nachtrock ausgezogen und auf das Fußende des Betts geworfen. Dann war er auf die Matratze gekrochen, lediglich ein Schatten im Dunkeln.
»Komm her«, hatte er gesagt, als würde er einen Hund
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