Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
noch einen und noch einen, bis das Silber über den Rand des polierten Steingefäßes hinausschwappte. In ihren Träumen trank Sintara daraus, und wenn das Silber durch ihre Adern rann, wurde ihr Herz mit Gesang erfüllt und ihr Geist mit Poesie. Sie trieb auf den berauschenden Erinnerungen dahin und vergaß die traurige Wirklichkeit ihres gegenwärtigen Lebens.
In jenem anderen Leben aus ihrer Erinnerung jedoch war sie eine Drachenkönigin, die sich gerade putzte. Von ihrer Schnauze tropfte das Silber, und sie strich eine feine Schicht davon auf ihre federgleichen Schuppen. Der in Grün und Gold gewandeten Frau war es eine Freude, sie von der silbernen Flüssigkeit trinken zu lassen. Zusammen verließen sie den Brunnen und bummelten durch die von der Sonne hell erleuchteten Straßen der Stadt. Dabei kamen sie an weitläufigen Plätzen vorbei, auf denen Wasserspiele vergnüglich plätscherten, und die Bewohner der Stadt in ihren hellen Roben begrüßten sie mit Knicksen und Verbeugungen. Auf dem Markt ging es laut her, wenn die Spielleute sangen und die Händler und Käufer miteinander feilschten. Der Duft von gebratenem Fleisch und Gewürzen, von seltenen Parfüms und herben Kräutern stieg ihr in die Nüstern. Wenn sie mit ihrer Gefährtin am Fluss anlangte, verabschiedeten sie sich so herzlich, wie nur alte Freunde auseinandergehen. Dann breitete die Drachenkönigin die geschmeidigen, rot schimmernden Schwingen aus, beugte die kräftigen Hinterläufe und schnellte mühelos in die Höhe. Drei, vier, fünf Flügelschläge, und der Wind vom Fluss erfasste sie und riss sie weiter nach oben. Auf der Strömung warmer Sommerwinde segelte sie davon.
Mit durchsichtigen Lidern über den goldenen Augen blinzelte die purpurne Drachin. Der Wind traf sie hart von der Seite, doch als sie sich ihm überließ und immer höher stieg, verwandelte sich seine Berührung in eine Liebkosung. Das warme, sommerliche Sonnenlicht verwöhnte ihren Rücken, während die Welt sich unter ihr ausbreitete. Das Land war gülden. Ein breites Flusstal, das zu beiden Seiten in sanftes, von Eichenhainen bestandenes Hügelland überging und schließlich von den steilen Klippen der zerklüfteten Berge eingefasst wurde. In der Ebene am Strom wechselten sich Getreidefelder mit Wiesen ab, auf denen Kühe und Schafe weideten. Entlang des Ufers verlief eine prächtige Straße aus glattem schwarzem Stein, von der etliche Wege zu verschiedenen Ländereien abzweigten. Jenseits der Menschenansiedlungen, in den Vorgebirgen und schmalen Tälern, die sich in die Berge gruben, wimmelte es von Wild.
In den Aufwinden über den Hügeln segelten andere Drachen, deren schimmernde Häute wie Juwelen im Sonnenlicht glitzerten. Ein blassgrüner Drache mit goldenen Flecken auf Schenkeln und Schultern schickte seinen lauten Ruf zu ihr. Als sie in ihm ihren letzten Paarungspartner erkannte, durchlief sie ein wohliger Schauer. Sie erwiderte seinen Gruß und sah, dass er in Schräglage ging, um zu ihr zu gelangen. Sobald er seine Wendung vollendet hatte, stieß sie einen schrillen, neckenden Schrei aus und schlug mit den mächtigen Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Er nahm die Herausforderung an, antwortete mit einem tief tönenden Ruf und raste ihr hinterher.
Regen. Kalter Graupel prasselte plötzlich auf ihren Rücken, als würde sie jemand mit Kieseln bewerfen. Sintara riss die Augen auf, und der Traum und die Zuflucht, die er geboten hatte, waren dahin. Schon einen Moment später rann ihr das kalte Wasser an den Flanken herab. Um sie her regten sich die Drachen und drängten sich widerstrebend dichter aneinander. Ihre Gedanken waren von Trauer und Wut erfüllt. »Kelsingra«, so gab sie sich selbst ein Versprechen. »Kelsingra.«
In der Finsternis stimmten die anderen Drachen ein.
Siebzehnter Tag des Keimmonds
Siebzehnter Tag des Keimmonds
IM FÜNFTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
Von Erek, Vogelwart in Bingtown,
an Detozi, Vogelwart in Trehaug
Die versiegelte Rolle enthält einen Brief von Bingtowns Händlerkonzil an die Konzile der Regenwildhändler von Trehaug und Cassarick mit dem Vorschlag, den Elderling Selden auszusenden, um nach dem Verbleib der Drachin Tintaglia zu forschen und sie zu überreden, zurückzukehren und sich der Pflege der Jungdrachen zu widmen.
Detozi,
ich greife im Namen Eures Neffen Reyall zur Feder, um Euch zu versichern, dass das Drei-Schiffe-Mädchen Karlin in der Tat einen vorzüglichen Charakter hat, fleißig und ihren
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