Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ernähren können. So lange Selden von den Händlersippen der Khuprus und Vestrit noch da war, hat er das Konzil besänftigt und versprochen, Tintaglia würde mit ihrem Gefährten zurückkehren und helfen. Und er hat sie auch ein bisschen damit eingeschüchtert, dass Tintaglia zürnen würde, wenn wir die Drachen vernachlässigen oder absichtlich grausam zu ihnen wären. Nun, inzwischen ist Selden nach Bingtown gerufen worden. Zwar haben die Elderlinge Reyn und Malta Khuprus seither für die Drachen das Wort ergriffen, aber sie sind nicht so überzeugend wie Selden. Die Stadt hat es satt, mit einer Horde hungriger Drachen als Nachbarn leben zu müssen, und wer will ihr einen Vorwurf machen?
Nun hat das Konzil zum ersten Mal konkrete Vorschläge angehört, wie man das Problem lösen könnte. Die Verhandlung hat unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden, doch keine Tür ist so dicht, dass nicht irgendwelche Gerüchte hinausdringen. Ein zorniges Konzilsmitglied hat argumentiert, dass die Drachen keine Zukunft hätten, und dass es nur barmherzig wäre, ihr armseliges Dasein zu beenden. Kaum hatte Händler Polsk gesprochen, da hat sich Händler Lorek erhoben und ihm vorgeworfen, dass er es nur darauf abgesehen hätte, die Drachenleichname auszuschlachten und zu verkaufen. Es gibt Gerüchte, dass der Fürst von Chalced immense Summen für einen kompletten Drachen bietet, ganz gleich ob lebend oder in Essig eingelegt. Und für einzelne Teile zahlt er entsprechend geringere Beträge. Jedermann weiß, dass Polsks Geschäfte kürzlich gelitten haben und dass er bei einem solchen Angebot durchaus in Versuchung kommen könnte. Man munkelt, dass ein Drache wegen der Trophäen bereits von der Herde weggelockt und erschlagen worden sei. Sicher ist nur, dass einer der Drachen in jener Nacht verschwunden ist. Eines der Konzilsmitglieder behauptet, dahinter steckten chalcedanische Spione. Andere verdächtigen ihre Kollegen, doch die meisten vermuten, dass die erbärmliche Kreatur davongelaufen und im Wald gestorben ist. Darum wiederholte Polsk, dass die Drachen in einer derart schlechten Verfassung wären, dass es einer Gnade gleichkommen würde, wenn man sie tötet.
Händler Lorek fragte ihn darauf, ob er denn nicht fürchte, Tintaglia könne Trehaug dieselbe Gnade angedeihen lassen. Ein anderes Konzilsmitglied machte darauf aufmerksam, dass wir Angebote von reichen Adligen und sogar einigen Städten bekommen haben, die gerne Drachen kaufen würden. Das wäre bestimmt besser und vernünftiger als diese wertvollen Kreaturen zu töten, meinte er. Es wurde der Vorschlag gemacht, den wohlhabenderen Interessenten mitzuteilen, welche Farbtöne und Geschlechter verfügbar sind, und den Höchstbietenden den Zuschlag zu geben.
Da ist Dujia richtig wütend geworden – sie berät das Konzil, wenn es um die Angelegenheiten der Tätowierten geht. Sie hat protestiert, denn sie gehört zu jenen, die die Drachen verstehen. Ihrer Meinung nach darf man Kreaturen, die wie Drachen denken und sprechen können, nicht einfach als Waren versteigern. Einige der Händler sehen aber in den Drachen nur Tiere und haben dagegen argumentiert. Sie meinen, dass Dujia die Sache zu eng sieht. Geschöpfe, die sich nur ausgewählten Menschen verständlich machen können, seien den Menschen nicht gleichgestellt. Und dann ging die Diskussion natürlich erst richtig los. Manche haben gefragt, ob denn dann auch Menschen, die eine fremde Sprache sprechen, keine vollwertigen Menschen wären. Darauf scherzte einer, dass dies den Charakter der Chalcedaner erklärte. Damit ebbte dem Vernehmen nach der Streit erst mal ab, und das Konzil hat dann sachlicher diskutiert, wie man das Drachenproblem lösten könnte.«
Thymara lauschte gebannt. Ihr Vater sprach nur selten mit ihr über die Politik der Regenwildnis. Hin und wieder hatte sie Gerüchte über die Schwierigkeiten mit den Drachen gehört, hatte den Einzelheiten aber wenig Beachtung geschenkt. »Warum können wir die Drachen nicht einfach ignorieren? Wenn sie dann irgendwann sterben, hat sich das Problem doch von allein erledigt.«
»Nicht bald genug, fürchte ich. Denn diejenigen, die überleben, sind zäh und werden von Tag zu Tag bösartiger und unberechenbarer, wie man erzählt.«
»Wie mir scheint, können wir ihnen deswegen kaum einen Vorwurf machen«, sagte Thymara leise. Sie dachte daran zurück, welch strahlendes Versprechen die frisch geschlüpften Drachen an jenem längst vergangenen Tag verströmt
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