Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
den kein Regenwildmensch je gesehen hat.« Er schnaubte. »Das ist eine undankbare, gefährliche und sinnlose Aufgabe. Jedermann weiß, dass sich flussaufwärts über viele Meilen hinweg nichts als endlose Moore, Sumpfland und Morastlöcher unter den großen Bäumen erstrecken. Wenn da eine große Stadt wäre, hätten unsere Kundschafter sie längst entdeckt. Mir ist schleierhaft, weshalb wir danach suchen. Entweder ist es die Gier nach trügerischen Schätzen, oder weil wir einen Vorwand brauchen, um die Drachen zu vertreiben.«
Während seines Vortrags hatte sich ihr Vater zunehmend empört. Und wie jedes Mal, wenn er sich ereiferte, paffte er so hektisch an seiner Pfeife, dass Thymara in einer Wolke süßen Tabakqualms saß. Als er endlich zum Ende gekommen war, drehte sie sich zu ihm um. Seine Augen schimmerten schwach in der Dunkelheit. Sie war sich bewusst, dass ihre eigenen mit einem satten Blau leuchteten, ein weiteres Zeichen ihrer Abartigkeit. Ohne seinem Blick auszuweichen, antwortete sie: »Ich glaube, dass ich mitgehen möchte, Vater.«
»Sei doch keine Närrin, Kind! Ich bezweifle, dass der Ort überhaupt noch existiert. Und dann: Eine gefährliche Reise stromaufwärts in unerforschte Regionen, in der Begleitung hungriger Drachen, angeheuerter Söldner und Schatzsucher – ein solches Unternehmen kann kein gutes Ende nehmen. Weshalb solltest du dich dem anschließen wollen? Wegen dem, was deine Mutter gesagt hat? Denn ganz gleich, was deine Mutter über dich oder zu dir sagt, ich werde dich immer …«
»Ich weiß, Vater«, unterbrach sie seinen hochkochenden Wortschwall. Während sie sprach, richtete sie den Blick durch das Geflecht aus Zweigen auf die Lichter Trehaugs. Dies war ihre Heimat, die Welt, die sie kannte. »Ich weiß, dass ich stets bei dir willkommen bin. Ich weiß, dass du mich liebst. Es muss wohl so sein. Du musst mich schon immer geliebt haben, sonst hättest du mich nicht gerettet, als ich erst ein paar Stunden alt war. Das weiß ich. Aber ich glaube, dass Mutter in gewisser Weise ebenfalls recht hat. Vielleicht ist es Zeit für mich, in die Welt zu ziehen und mein eigenes Leben zu leben. Ich bin keine Närrin, Vater. Mir ist bewusst, dass dies schlimm ausgehen kann. Doch ich weiß auch, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Wenn klar wird, dass die Expedition scheitern wird, komme ich zu dir zurück und lebe weiter, wie ich es bisher getan habe. Aber dann bin ich wenigstens einmal in meinem Leben auf Abenteuer ausgezogen.« Sie räusperte sich und fügte bemüht heiter hinzu: »Und wenn wir die Drachen tatsächlich erfolgreich umsiedeln sollten und einen neuen Wohnort für sie finden, oder wenn wir gar diese sagenhafte Stadt entdecken, stell dir vor, was dies für uns bedeuten würde. Was es für die Regenwildleute bedeuten würde.«
Nach einer Weile erwiderte ihr Vater: »Du musst dich nicht beweisen, Thymara. Ich weiß, was du wert bist. Ich habe nie an dir gezweifelt. Weder mir gegenüber noch deiner Mutter oder irgendeinem anderen gegenüber brauchst du dich zu beweisen.«
Erneut sah sie ihn über die Schulter an, diesmal mit einem Lächeln. »Aber vielleicht gegenüber mir selbst, Vater.« Sie holte tief Luft und sagte entschlossen: »Morgen gehe ich stammabwärts zum Konzil. Ich werde das Angebot annehmen.«
Es verging einige Zeit, bis ihr Vater eine Antwort fand. Als er dann sprach, klang seine Stimme tiefer als sonst, und trotz seines Lächelns sah er elend aus. »Dann komme ich mit dir. Um dich zu verabschieden, mein kleiner Liebling.«
Zwanzigster Tag des Hoffnungsmonds
Zwanzigster Tag des Hoffnungsmonds
IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
Von Detozi, Vogelwart in Trehaug,
an Erek, Vogelwart in Bingtown
Die versiegelte Rolle enthält eine Nachricht des Händlers Mojoin an den Kaufmann Pelz. Vertraulich. Mit ungebrochenen Siegeln zu überbringen.
Erek,
mit Dankbarkeit setze ich Euch davon in Kenntnis, dass die beiden Käfige mit jamaillianischen Königstauben, die Ihr uns an Bord der Golddaune gesandt habt, sicher angekommen sind und sich gut im Taubenschlag eingelebt haben. Die ausgewachsenen Vögel sind von eindrucksvollen Ausmaßen, und ich kann nur hoffen, dass ihre Tragkraft und Ausdauer ihrer Größe entspricht. Dank Euch, dass Ihr die neuen Zuchttiere mit mir geteilt habt. Ich hoffe, dass Reyall auch künftig Eure Erwartungen erfüllt und seiner Familie Anlass gibt, stolz auf ihn zu sein. Sein Vater wird ihm bald einen Besuch abstatten,
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