Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
sie täglich zum Sammeln gehen«, gab der Alte streng zurück. »Damit sie wieder einbringt, was sie uns nimmt. In der Regenwildnis ist alles kostbar. Habt Ihr das vergessen?«
»Und das Leben eines Kindes ist das Kostbarste von allem«, hatte ihr Vater gesagt, der von hinten an den Mann herangetreten war. Er war direkt vom Blätterdach zu ihnen heruntergekommen, um sie am Ende des Markttages abzuholen. Rinde und Blätter vom Klettern hingen an seinen Kleidern. Obwohl Thymara zu alt dafür war, hatte ihr Vater sie aufgehoben und aus dem Markt getragen. Der Tragekorb, den er sich über die andere Schulter gehängt hatte, war halb voll. Eilig hatte ihre Mutter die Matte mit den unverkauften Waren zusammengerollt und war über die Stege gehastet, um ihn einzuholen.
»Dummer, scheinheiliger alter Sack!«, hatte ihr Vater geknurrt. »Und was, würde ich gern mal wissen, tut er, um sein Essen zu verdienen? Wie konntest du nur zulassen, dass er so über Thymara spricht?«
»Das war ein Händler, Jerup.« Beinahe ängstlich warf ihre Mutter einen Blick über die Schulter. »Es hätte keinen Sinn, ihn oder seine Familie zu beleidigen.«
»Oh, ein Händler !« Ihr Vater sprach mit gespielter Ehrfurcht. »Ein Mann, der aufgrund seiner Geburt Stand, Reichtum und Privilegien besitzt. Er hat seinen Platz hier auf dieselbe Weise verdient, wie es alle Erstgeborenen tun. Er war einfach schlau genug, als Erster im Bauch der richtigen Mutter heranzuwachsen. Nicht wahr?«
Keuchend bemühte sich ihre Mutter, mit ihm Schritt zu halten. Auch wenn Thymaras Vater nicht besonders groß war, so war er doch wie die meisten Sammler drahtig und kräftig. Selbst mit Thymara auf den Armen überquerte er die Brücken mühelos und stieg die sich um die Stämme windenden Treppen hinauf. Ihre Mutter hingegen, die lediglich ihre Markttasche tragen musste, vermochte ihm kaum zu folgen.
»Er hat ihre Klauen gesehen, schwarz und gebogen wie die einer Kröte. Und sie ist schon so geschuppt wie eine Frau von dreißig, dabei ist sie gerade mal elf. Er hat die Schwimmhäute zwischen ihren Zehen gesehen und wusste sogleich, dass sie von Geburt an gezeichnet war. Und er hat daran Anstoß genommen, dass du sie … behalten hast. Er ist nicht der Einzige, Jerup. Er ist lediglich alt und arrogant genug, die Wahrheit offen auszusprechen.«
»Er ist wahrlich arrogant«, sagte ihr Vater brüsk, worauf er seine Schritte beschleunigte und ihre Mutter abschüttelte.
An diesem lang vergangenen Abend hatte Thymara den Tag alleine auf der winzigen Veranda beschlossen. Mit an die Brust herangezogenen Knien hatte sie die flechtenartigen Fransen befühlt, die sich an ihrem Kinn bildeten. Manchmal wackelte sie mit den durch Schwimmhäute verbundenen Zehen und betrachtete die dicken schwarzen Klauen an ihren Spitzen. Im Haus war es still, doch in der Stille lag der furchtbare Zorn ihrer Mutter. Ihr Vater war geflohen, um einige der Erträge des heutigen Tags noch spät zu verhökern. Mit Worten ließ sich argumentieren, doch das Schweigen ihrer Mutter machte jede Klärung unmöglich. Und ihr Schweigen ließ genug Raum, um in ihrem Geist die Worte des Alten widerhallen zu lassen.
Um sie her raschelte und flirrte das Blätterdach. Das Laub wiegte sich im Wind. Schillernde Insekten krabbelten über die Borke oder schwirrten von Zweig zu Blatt. Unscheinbare Eidechsen und wie Edelsteine funkelnde Frösche krochen umher oder saßen unbeweglich da, pulsierend vor Leben. Die ganze lebendige Schönheit ihres Waldes umgab Thymara. Sie blickte an ihren gebogenen Zehennägeln vorbei zu dem tief unten in den Schatten liegenden Sumpf, aus dem ihre Welt emporwuchs. Doch sie sah ihn nicht. In den kräftigeren Ästen weiter unten, die besseren Halt boten, drängten sich die festen Häuser der Reichen, deren Licht die Nacht erhellte. Auch sie waren auf ihre Art schön und voller Leben.
Sie hatte versucht, sich das Leben an einem anderen Ort vorzustellen, in einer Stadt auf ebenem Grund, auf den die Sonne hell und heiß herunterschien. Ein Ort mit trockenem, festem Boden, auf dem man Früchte anbaute und wo die Leute zu Pferde reisten anstatt mit Booten. Bingtown vielleicht, wo sich Leute große Tiere hielten, um sich auf Rädern ziehen zu lassen, und wo keine feine Dame auf den Gedanken käme, in einen Baum zu klettern, geschweige denn, in einem zu wohnen. Thymara dachte an diese sagenhafte Stadt und stellte sich vor, dorthin zu fliehen. Doch so unvermittelt, wie der Gedanke ihr ein
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