Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
Kahns erstreckte sich der Fluss bis an ein unsichtbares fernes Ufer. Auf der anderen ragte der Wald auf und ließ den Kahn winzig erscheinen. Am Fuß der Bäume verlief ein schmales Band aus Morast, das den Drachen einen Schlafplatz bot. Und auf dem Dach des Deckshauses, nebeneinander aufgereiht wie Leichen, lagen die schlummernden Hüter. Leftrin dagegen war wach.
Eigentlich war es Swarges Wache, aber Leftrin hatte ihn ins Bett geschickt. Die ganze Mannschaft schlief. Der Flusspegel war gesunken, Teermann lag über Nacht sicher am Ufer, und die Mannschaft hatte sich Ruhe verdient. Es war die erste Nacht seit der Flut, in der sie hoffentlich durchschlafen konnten. Sie alle brauchten etwas Erholung und Schlaf.
Selbst Alise, die daher schon früh ihre Kabine aufgesucht hatte. Sie war noch immer erschöpft. Wieder begann Leftrin eine gemächliche Runde über Deck. Aber eigentlich brauchte er dies nicht zu tun, denn alles war ruhig und sicher. Er hätte sich auch auf seine Pritsche legen und Teermann sich selbst überlassen können. Niemand würde ihm einen Vorwurf deswegen machen.
Er kam an Alises Tür vorbei. Kein Licht drang durch den Spalt heraus. Zweifellos schlief sie. Wäre ihr nach seiner Gesellschaft gewesen, hätte sie sich an den Kombüsentisch begeben. Doch stattdessen war sie gleich nach dem Abendessen verschwunden. Er hatte gehofft, dass sie bleiben würde. Denn es wäre die erste und einzige Nacht gewesen, in der sie zusammen an Bord hätten sein können, ohne dass Sedrics Anwesenheit sie daran erinnerte, wer und was sie war. Er hatte gehofft, sie für diese eine Nacht ihrem Leben in Bingtown entreißen zu können und ganz für sich zu haben.
Aber sie hatte sich am Tisch entschuldigt und war in ihre Kammer verschwunden.
Was hatte das zu bedeuten?
Wahrscheinlich, dass sie um einiges mehr Verstand hatte als er. Was er, wie er sich eingestehen musste, schon lange gewusst hatte. Welcher kluge Mann würde sich an eine Frau ketten, die einfältiger war als er selbst? Seine Alise war klug, und das war ihm bewusst. Nicht nur gelehrt, sondern auch wirklich intelligent.
Er wünschte sich nur, dass sie in dieser Nacht einmal nicht klug gewesen wäre.
Und was war er für ein Mensch, dass er Sedrics Abwesenheit nicht als traurigen Verlust, sondern als Erleichterung empfand? Der Mann war seit Kindertagen Alises Freund gewesen. Das war ihm klar. Und auch wenn er selbst nichts als einen verwöhnten Schnösel in ihm sah, mochte Alise ihn doch. Wahrscheinlich fragte sie sich gerade, ob er noch am Leben war oder ob er in einer misslichen Lage steckte und Not litt. Und er, der Grobian, dachte nur daran, dass er den Wächter los war.
Er vollendete seine Runde übers Deck und blieb eine Zeit lang an Teermanns stumpfem Bug stehen. Er lehnte sich an die Reling und sah zum »Ufer«. Dort irgendwo schliefen die Drachen im Schlamm, aber er konnte sie nicht erkennen. Der Wald bildete vor ihm eine stockfinstere Wand. Leftrin sprach zu seinem Schiff.
»Nun, morgen ist ein neuer Tag, Teermann . Carson wird zurückkehren, so oder so. Und dann? Ziehen wir weiter?«
Gewiss.
»Du scheinst dir da so sicher zu sein.«
Ich erinnere mich daran.
»Das hast du mir erzählt. Aber du erinnerst dich nicht daran, in welcher Lage wir im Moment stecken.«
Nein. Das stimmt.
»Dennoch glaubst du, dass wir weiterziehen sollen?«
Die anderen haben keine andere Wahl. Und ich meine, das ist das Mindeste, was wir für sie tun können.
Leftrin schwieg. Sanft strich er mit den Händen über die Reling und dachte nach. Teermann war ein altes Schiff, älter als jedes andere Lebensschiff. Er war eines der ersten Schiffe, das seinerzeit aus Hexenholz, wie man es damals genannt hatte, gebaut worden war. Er war nicht als Handelsschiff konstruiert worden. Er sollte lediglich ein Kahn werden, der durch eine dicke Schicht des widerstandsfähigen Holzes gegen die ätzenden Wasser des Regenwildflusses gefeit war. Aus einem Brauch heraus, der älter als Bingtown oder selbst Jamaillia war, hatten Leftrins Vorfahren Augen auf das Schiff gemalt. Nicht nur, um ihm eine Persönlichkeit zu verleihen, sondern auch aus dem Aberglauben heraus, dass der Kahn in den gefährlichen Gewässern damit selbst »Ausschau« halten und auf sich aufpassen konnte. Damals wusste man über Hexenholz lediglich, dass es hart und schwer war und dem säurehaltigen Flusswasser widerstand. Niemand wusste, dass es ein Bewusstsein erlangen konnte, wenn eine Generation Menschen auf ihm
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