Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
ausgegraben wurde und diese ganzen Sachen. Am Anfang ging es nur ums Überleben, wie man an trinkbares Wasser herankommt, wie man trockene Behausungen errichtet, wie man Boote baut, die der Fluss nicht auffrisst …«
»Das ist doch weiter keine Kunst.« Er bog einen kleineren Zweig hin und her.
»Das ist meistens so, nachdem jemand anders darauf gekommen ist.«
Er grinste sie an. Er hatte den Zweig vollends abgerissen. Jetzt befreite er ihn von seinen Blättern, bevor er sich mit ihm eine Ranke angelte. Langsam und vorsichtig zog er sie am Haken zu sich heran, bis er sie mit der Hand zu fassen bekam. Auch Thymara verzog den Mund zu einem Grinsen. Er war schlau, das musste sie ihm lassen. Sie öffnete ihren Tragesack und begann, die Früchte abzupflücken. »Wie auch immer. Damals mussten Frauen vielerlei Dinge tun können. Und sie mussten neue Wege finden, wie man Dinge tat.«
»Und die Männer nicht?«, fragte Tats unschuldig.
Sie erwischte eine von einem Vogel angepickte Frucht. Sie brach sie ab und warf damit nach ihm. Dann erntete sie weiter. »Die natürlich auch. Aber das ändert nichts an dem, worauf ich hinauswill.«
»Was da wäre?« Auch er hielt seinen Sack auf und füllte ihn.
Worauf wollte sie hinaus? »Dass sich Händlerfrauen früher einmal genauso bewiesen haben wie Männer. Indem sie überlebten.« Ihre Hände wurden langsamer. Sie sah durch das Blattwerk hinaus auf den Fluss und in die Ferne. Das entgegengesetzte Flussufer war im Nebel kaum auszumachen. Bisher war ihr nicht aufgefallen, wie breit der Strom geworden war. Sie versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen, denn Tats fragte sie dieselbe Frage, die sie sich selbst schon gestellt hatte. Nicht nur für ihn, auch für sich selbst musste sie eine Antwort finden.
»Als ich auf die Welt kam«, sagte sie und achtete darauf, ihn nicht anzuschauen, »hielt man mich des Lebens nicht wert. Mein Vater hat mich davor bewahrt, ausgesetzt zu werden, aber das hat lediglich bewiesen, wer er war. Über mich hat das nichts ausgesagt. Während ich aufwuchs, waren alle um mich herum der Ansicht, ich hätte nicht verdient zu leben.« Ihre Mutter inbegriffen. Doch das würde sie ihm gegenüber nicht erwähnen. Denn es klang sogar in ihren eigenen Ohren nach Selbstmitleid. Und es hatte mit dem, was sie sagen wollte, nichts zu tun. Oder doch? »Ich habe mit meinem Vater zusammengearbeitet und genau wie er gesammelt. Ich habe die ganze Arbeit getan, die man von mir verlangt hat. Aber das war immer noch nicht genug. Es war lediglich, was man von mir erwartete. Was man von jeder Tochter der Regenwildnis erwartet hätte.« Jetzt sah sie ihn doch an. »Zu beweisen, dass ich trotz meines Aussehens normal war, reichte ihnen nicht.«
Wie zwei kleine Tiere arbeiteten seine sonnengebräunten Hände, brachen die Früchte ab und beförderten sie in die Tasche. Sie hatte seine Hände schon immer gemocht. »Warum hat es dir nicht gereicht?«, fragte er.
Das war der Knackpunkt. Sie war sich nicht sicher. »Es war eben nicht genug«, sagte sie schroff. »Ich wollte, dass sie zugeben, dass ich genauso gut wie sie, ja sogar noch besser als so mancher von ihnen bin.«
»Und was wäre dann gewesen?«
Sie dachte eine Zeit lang schweigend nach und unterbrach die Ernte, um eine der gelben Früchte zu essen. Ihr Vater hatte den Namen dieser Früchte gewusst, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran. In der Nähe Trehaugs kamen sie nicht häufig vor. Diese waren jedoch dick und süß und hätten auf dem Markt einen guten Preis erzielt. Sie nagte sie bis auf einen flaumigen Kern ab, schabte mit den Zähnen das restliche Fleisch davon ab und warf den Stein weg. »Womöglich hätten sie mich noch mehr als zuvor verabscheut«, räumte sie ein. Sie nickte lächelnd vor sich hin und sagte: »Aber dann hätten sie wenigstens einen guten Grund dafür gehabt.«
Sein Rucksack war voll, und er zog die Kordel zu. Sie hatte diese Tasche noch nie zuvor gesehen. Wahrscheinlich gehörte sie zur Ausrüstung des Kahns. Er nahm sich ebenfalls eine Frucht und biss hinein. Dann fragte er: »Dir ging es also nicht darum, dich zu beweisen, um anschließend in der Lage zu sein, ihre Regeln zu brechen? Zu heiraten und Kinder zu kriegen?«
Sie dachte darüber nach. »Nein. Eher nicht. Wenn sie zugegeben hätten, dass ich ein Recht auf Leben habe, das hätte mir vielleicht schon gereicht.« Sie wandte den Kopf um und fügte hinzu: »Ich glaube nicht, dass ich dabei Wert auf die Sache mit dem Heiraten
Weitere Kostenlose Bücher