Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
zu spät gewesen, auch wenn er es noch nicht gewusst hatte. »Zu spät.« Erst als er ihr Gesicht ansah, wurde ihm bewusst, dass er die Worte geflüstert hatte.
»Bei Sas Gnade, Sedric, bist du so krank?«
»Nein«, beeilte er sich zu sagen, um zu verhindern, dass sie weitersprach. In Wahrheit hatte er aber keine Ahnung, wie krank er war, oder ob »krank« das rechte Wort war, um seinen Zustand zu beschreiben. »Nein, nichts dergleichen, Alise. Ich meine nur, es ist zu spät, um einen Versuch zu starten, mit einem kleinen Boot nach Cassarick zurückzugelangen. Davvie hat mich unzählige Male gewarnt, dass die Herbstregen bald einsetzen werden. Und wenn sie erst einmal herniederprasseln, wird unsere Reise den Fluss hinauf noch schwieriger. Vielleicht sieht Kapitän Leftrin dann ein, wie töricht diese ganze Unternehmung ist, und macht sich mit dem Kahn auf die Heimreise. Auf jeden Fall möchte ich nicht in einem kleinen Boot auf einem reißenden Strom sitzen, wenn Sturzbäche auf uns herabregnen. Für mich nicht gerade das passende Wetter, um im Freien zu kampieren.«
Fast fand er zu seiner üblichen Stimme und seinem gewohnten Tonfall zurück. Vielleicht würde sie gehen, wenn er einen normalen Eindruck machte. »Ich bin sehr müde, bitte entschuldige«, sagte er unvermittelt.
Alise stand auf. In den Hosen, die lediglich ihre weiblich gerundeten Hüften betonten, sah sie bemerkenswert unansehnlich aus. Ihre Bluse zeigte erste Abnutzungserscheinungen. Zwar sah man deutlich, dass sie sie gewaschen hatte, aber das Wasser hatte den einst schneeweißen Stoff grau verfärbt. Auch die Sonne forderte ihren Tribut: Die roten Strähnen, die sich aus ihrem hochgesteckten Haar lösten, bleichten aus und nahmen die Farbe von Möhren an, während ihre Sommersprossen dunkler wurden. Nach den Maßstäben Bingtowns war sie noch nie eine Schönheit gewesen. Noch etwas mehr Sonne und Wasser, und es wäre fraglich, ob Hest sie überhaupt noch würde haben wollen. Es war eine Sache, eine mausgraue Gattin zu haben, aber eine andere, wenn man eine Schreckgestalt zur Frau hatte. Sedric fragte sich, ob sie die Möglichkeit in Betracht zog, dass Hest sie bei ihrer Rückkehr nicht mehr aufnehmen würde. Wahrscheinlich nicht. Sie war in dem Glauben erzogen worden, dass das Leben auf eine ganz bestimmte Weise abzulaufen hatte. Und selbst wenn alles auf das Gegenteil hindeutete, war sie nicht in der Lage, die Dinge anders zu sehen. Sie würde nie auf den Gedanken kommen, dass er und Hest mehr als nur vorzügliche Freunde waren. Für Alise war Sedric noch immer der Freund aus Kindertagen, einstmaliger Sekretär ihres Ehemanns und momentan ihr eigener Assistent. Derart überzeugt war sie, dass die Welt ihren Regeln folgte, dass sie nicht erkennen konnte, was sich vor ihren Augen abspielte.
Und darum lächelte sie ihn zärtlich an. »Ruh dich ein wenig aus, mein teurer Freund«, sagte sie und schloss leise die Tür hinter sich. Damit sperrte sie ihn wieder in seinen Verschlag und überließ ihn der Dunkelheit und seinen Gedanken.
Er drehte sich zur Wand. Es juckte ihn im Nacken. Energisch kratzte er sich und spürte trockene Haut unter den Nägeln. Alise war nicht die Einzige, deren Äußeres ruiniert war. Seine Haut war rau, und sein Haar strohig wie ein Pferdeschwanz.
Er wünschte, Alise an allem die Schuld geben zu können. Aber das konnte er nicht. Seit Hest ihn verbannt und dazu verdonnert hatte, sie zu begleiten, war er darauf bedacht gewesen, jede Gelegenheit zu ergreifen, die die Reise ihm bot. Er hatte Pläne geschmiedet, um aus der Situation Vorteil zu schlagen und Drachenfleisch, eine Schuppe oder einen Tropfen Blut zu erlangen. Sorgfältig hatte er alles vorbereitet, um seine Funde haltbar zu machen. Begasti Cored wartete auf eine Nachricht von ihm und freute sich schon auf das Vermögen, das er als der Mann machen würde, der dem Fürsten von Chalced diese verbotene Ware beschaffte.
In manch einem Tagtraum kehrte Sedric nach Bingtown zurück, präsentierte Hest seine Beute, worauf dieser ihm half, einen guten Preis dafür zu erzielen. In solchen Träumen verkauften sie die Waren gemeinsam, ohne jemals wieder nach Bingtown zurückzukehren. Stattdessen ließen sie sich als reiche Männer in Chalced nieder, oder in Jamaillia oder auf den Pirateninseln. Oder vielleicht sogar in noch weiterer Ferne, auf den legendären Gewürzinseln. In anderen Träumereien verheimlichte er Sedric seinen neuen Reichtum, bis er an einem fernen Ort ein
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