Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
schlimmer, denn Alise schloss sie in ihre Arme.
»Oh, Thymara, es tut mir ja so leid! Beinahe hätte ich dich getötet, und das nur wegen eines Fischs!«
Thymara gelang es, sich aus der Umarmung zu lösen. »Was für ein Fisch war es denn?«, fragte sie, weil sie die Aufmerksamkeit von sich weg lenken wollte. Ihr aufgeschürfter Arm schmerzte, und ihre Kleider troffen. Während Alise antwortete, schlang sie die Decke um sich. »Komm und sieh ihn dir an. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Noch nie hatte Thymara je etwas Derartiges erblickt. Von der Form her glich das Tier einem umgestülpten Teller, aber einem Teller, der zweimal so groß war wie Thymaras Decke. Obenauf befanden sich zwei Knollenaugen und am hinteren Ende ein langer, peitschenartiger und mit Dornen besetzter Schwanz. Die Oberseite war hell und dunkel gesprenkelt wie das Flussbett, doch die Unterseite war ganz weiß. Ein Dutzend Speerwunden und die Spuren von Sintaras Zähnen, die das Wesen ans Land gezerrt hatte, waren deutlich sichtbar. »Ist das ein Fisch?«, fragte sie ungläubig.
»Sieht ein bisschen nach einem Rochen aus. Ja, ein Fisch«, bestätigte Leftrin. »Aber etwas Vergleichbares habe ich im Fluss noch nie gesehen, höchstens im Salzwasser. Und schon gar nicht in der Größe.«
»Und es ist mein Fressen«, erklärte Sintara. »Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre es entwischt.«
»Deine Gier hat mich fast umgebracht«, sagte Thymara nicht laut, aber bestimmt. Dabei war sie überrascht, mit welcher Ruhe ihr die Worte über die Lippen kamen. »Du hast mich ins Wasser gestoßen, wo ich beinahe ertrunken wäre.« Sie sah die Drachin an, die ihren Blick erwiderte. Doch sie spürte in dem Wesen keine Regung, weder Reue noch Rechtfertigung. Gemeinsam waren sie so weit gekommen, und der Drache war gewachsen und stärker und auf jeden Fall auch schöner geworden. Doch im Gegensatz zu den anderen Drachen war Sintara ihrer Hüterin nicht nähergekommen. Ein Gefühl heftiger Enttäuschung stieg in ihr auf. Täglich wurde Sintara schöner. Sie war zweifellos das prächtigste Wesen, das Thymara kannte. Das Mädchen hatte davon geträumt, die Gefährtin eines solch wundervollen Wesens zu sein, sich im Widerschein ihrer Herrlichkeit zu sonnen. Deshalb hatte Thymara die Drachin nach besten Kräften gefüttert und täglich geputzt, sie verarztet, wenn sie geglaubt hatte, ihr helfen zu können, und sie unablässig gelobt und ihr geschmeichelt. Und sie hatte beobachtet, wie sie stärker und gesünder geworden war.
Und heute hatte die Drachin sie beinahe getötet. Aus Unachtsamkeit, nicht wegen ihres Temperaments. Und jetzt äußerte sie nicht einmal eine Spur Bedauern. Da kam ihr die Frage von vorhin wieder in den Sinn. Wieso hatten die Drachen nach Hütern verlangt? Jetzt erschien ihr die Antwort vollkommen klar zu sein. Sie wollten Diener haben. Weiter nichts.
Sie hatte oft den Ausdruck gehört, dass jemandem »das Herz bricht«. Aber sie hatte nicht geahnt, dass es tatsächlich Schmerzen gab, die sich anfühlten, als zerspringe einem das Herz in der Brust. Sie betrachtete ihren Drachen und rang nach Worten. Sie hätte sagen können: »Du bist nicht länger mein Drache, und ich bin nicht länger deine Hüterin.« Aber das tat sie nicht, denn plötzlich merkte sie, dass es ohnehin niemals so gewesen war. Langsam schüttelte sie den Kopf und wandte sich von der wunderschönen saphirblauen Gestalt ab. Sie betrachtete den Kreis der versammelten Hüter und Drachen. Mit ihren weit aufgerissenen blauen Augen sah Alise sie an. Auch sie war tropfnass, doch Kapitän Leftrin hatte ihr seinen Mantel über die Schultern gelegt. Wortlos starrte die Frau aus Bingtown sie an, und Thymara wusste, dass Alise allein ahnte, was in ihr vorging. Das war unerträglich. Sie drehte sich um und ging davon. Tats trat mit versteinertem Gesicht zur Seite und ließ sie durch.
Sie war keine zwanzig Schritte gegangen, als Sylve zu ihr aufschloss. Auch Mercor trottete lautlos neben ihr her. Das Mädchen sprach leise. »Mercor hat dich aus dem Wasser gefischt.«
Thymara blieb stehen. Er war es auch gewesen, dessen Schatten auf sie gefallen war, als sie wieder zu sich gekommen war. Unwillkürlich berührte sie ihre Rippen, wo seine Zähne ihre Kleider zerfetzt und ihre Haut aufgeschürft hatten. »Danke«, sagte sie. Sie sah zu den sich sacht drehenden Augen des Golddrachen auf. »Du hast mir das Leben gerettet.« Nachdem ihr eigener Drache sie ins Wasser gestoßen und sich nicht
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