Raine der Wagemutige
verholfen. Sorgfältig aufgetragene Paste ließ ihre Lippen dünner aussehen, als die Natur sie geschaffen hatte, und ein wenig Rouge betonte ihre Wangenknochen.
Mehr Rouge, unter das Kinn getupft, erweckte den Eindruck eines langen Halses, und Muira hatte mit ihrer Pinzette diese gebogenen, dünnen Augenbrauen hervorgebracht. Ein Tropfen Belladonna weitete ihre Pupillen, so dass die indigoblaue Iris nur noch als schmaler Ring zu sehen war und ihre Augen weniger blau wirkten.
Und schließlich zerstieß Muira jede Woche getrocknete Wurzeln und Beeren und färbte ihr damit die rotgoldenen Flechten schwarz. Eine tote Farbe, dachte Favor für sich, wann immer sie sich selbst im Spiegel sah, ein Ebenholzschwarz, dem der Schimmer gesunden Haares fehlte.
Wenigstens im Zustand völliger Entspannung sah Favor Janet McClairen so ähnlich, wie Muira und ihre Farben und Mixturen es zu bewerkstelligen vermochten. Um diese Ähnlichkeit zu verstärken, musste sie sich auf die Erinnerung derer verlassen, die die längst verstorbene Dame persönlich gekannt hatten. Versuchsweise öffnete sie ihren Fächer. Schwungvoll - denn Trägheit lag nicht in Janet McClairens Art - begann sie sich damit zuzufächeln und hob ihn dann vor ihren Mund, senkte die Augenlider und sah neckisch zur Seite. Zu geziert. Sie versuchte es noch einmal. . .
„Also ich muss schon sagen, Miss Donne, Ihr würdet doch nie so grausam sein, all diese verführerischen Blicke auf Euer eigenes Spiegelbild zu verschwenden, oder etwa doch? Ich meine, werdet Ihr wenigstens einen davon für mich aufsparen?“
Favor fuhr auf dem Absatz herum. Lord Orville stand mit einer Schulter an die Wand gelehnt nicht weit von ihr. Seine Sprechweise war leicht undeutlich, die Lippen hatte er tadelnd geschürzt. Langsam wich Favor zurück.
An ihrem ersten Abend auf Wanton's Blush hatte Lord Orville sie in einem verlassenen Raum gestellt und ihr seine Aufmerksamkeiten aufgedrängt. Ohne Vorwarnung hatte er sie gepackt und mit brutaler Gewalt geküsst, dass ihre Lippen beinahe aufgeplatzt wären. Sogar jetzt noch drohte sich ihr allein bei der Erinnerung an seine nassen, kalten Lippen der Magen umzustülpen. Sie hatte versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er war zu stark gewesen. Sie hatte es nicht gewagt um Hilfe zu rufen. Sie fürchtete, Carr könnte sie wegen ihrer Zimperlichkeit fortschicken, oder schlimmer noch, aus Widerwillen vor ihrer jungfräulichen Empfindsamkeit.
Allein das rechtzeitige Eintreffen von Orvilles kichernder Ehefrau, hitzig verfolgt von einem aufgelöst aussehenden Lakaien, hatte Orville selbst lange genug abgelenkt, dass Favor sich ihm entwinden und fliehen konnte. Seitdem war es ihr gelungen, ihm auszuweichen.
Ihr Glück hatte sie dieses Mal offensichtlich im Stich gelassen.
„Hat die Katze Eure Zunge verschluckt?“ spottete Orville. „Was für eine glückliche Katze.“
Der Anschein zählt, mahnte sie sich selbst. Das war ihre einzige Hoffnung. Orville würde keine Ahnung haben, wie er mit einer Frau umgehen sollte, deren Weltgewandtheit die seine übertraf. Sie zwang sich, in gleichmäßigerem Rhythmus zu atmen, und ließ ihren Elfenbeinfächer zuschnappen.
„Lord Orville . . sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tat so, als erspähte sie hinter ihm etwas, „ist das nicht Eure Gattin, die ich dort hinten mit einem Stallburschen auf der Treppe verschwinden sah?“
Ein hämisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Ja und, was ist damit? Soll sie doch ihren Spaß mit ihm haben, bis sie satt ist - oder eher . . .“, er lachte hässlich, „soll der Junge sie haben. Alle anderen tun das ja schließlich auch.“ Damit stieß er sich von der Wand ab und entblößte seine
gelben Zähne in einem gemeinen Lächeln. „Ich würde meinen Hunger viel lieber an Euch stillen, Miss Donne. Bissen für Bissen.“
Er schlenderte zu ihr hinüber und klopfte sich mit einem Finger gegen sein weißes, schwammiges Kinn. „Ich würde etwas Seltenes zu schmecken bekommen, das nur wenige Männer vor mir probieren durften. Oh, schaut nicht so überrascht, meine Liebe. Seht Ihr, ich habe mich nach Euch erkundigt. Das haben wir alle.“
„Wie ermüdend das für Euch gewesen sein muss“, erwiderte Favor und zwang sich, ruhig stehen zu bleiben. „Und ich kann mir gar nicht vorstellen, warum Ihr Euch diese Mühe gemacht habt, wo ich doch nicht das geringste bisschen Interesse an Euch gezeigt habe.“
„Ts. Ts. So eine unhöfliche kleine Schottin.
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