Raine der Wagemutige
Seid Ihr denn gar nicht neugierig darauf, was ich herausgefunden habe?“ „Nein.“
Sein Lächeln wurde breiter. „Ich weiß, Euer älterer Bruder ist eine Art verstoßener Schotte - verstoßen, weil er beschlossen hatte, lieber nach Amerika zu gehen, als mit dem Rest seiner jakobitenfreundlichen Verwandten durch die Highlands zu stolpern. Mir scheint das eine überaus vernünftige Entscheidung, aber ganz offensichtlich waren Eure Clansleute der Ansicht, dass er damit einen beklagenswerten Mangel an Treue bewies.“
Er beobachtete sie genau und lauerte auf irgendein Zeichen, das ihm verriet, ob es ihm gelungen war, sie mit seinen Worten zu treffen. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Orville vielleicht einer von Lord Cumberlands Spitzeln war, die in die Highlands gesandt worden waren, um weitere Aufstände im Keim zu ersticken.
Wenn dem so wäre, dann würde er an ihr keine Freude haben. Sie kannte die Geschichte der vermeintlichen Feigheit ihres Bruders und seiner anschließenden Verstoßung auswendig. Das sollte sie auch. Thomas hatte sie sich selbst ausgedacht. Es erlaubte ihm, sich frei unter diesen englischen Besatzern zu bewegen - von ihnen als Verräter seines Volkes verachtet, während sie zur gleichen Zeit bereit waren, ihn als Roue und Verschwender in ihrer Mitte willkommen zu heißen.
„Ich fürchte, er genießt unter seinen Kilt tragenden Brüdern nicht gerade großes Ansehen. Aber schaut nicht so traurig, Miss Donne. Ich hörte, dass sein Reichtum ihm eine echte Hilfe ist. Und Euch.“
Favor fuhr fort, ihr Spiegelbild zu mustern, eine eitle Frau, gelangweilt von der belanglosen Unterhaltung mit einem wenig aufregenden Mann.
„Drohen ihm die Verbündeten seines alten Clans? Ist das der Grund dafür, warum er Schottland so übereilt verlassen musste?“
Favor beugte sich vor, so dass ihr Gesicht dichter vor dem Spiegel war, und steckte eine schwarze Locke, die sich gelöst hatte, zurück in ihre Frisur, bevor sie antwortete. „Hm? Thomas? Himmel, nein, nichts dergleichen. Soweit ich weiß, ist mein lieber Bruder in Amerika.“ Sie schenkte ihm ein leeres Lächeln. „Nun, wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt.. .“
Sie wäre fast an ihm vorbeigekommen, doch dann verstellte er ihr in letzter Sekunde den Weg. Ihr Lächeln erstarb. „Sir?“
„Wie kommt es, dass er seine kleine Schwester hier zurückgelassen hat?“
„Vielleicht, weil er seine Plantage besucht und seine kleine Schwester eine Abneigung gegen Schweiß hat, und Schweiß, so versicherte man mir, gibt es auf der Plantage im Übermaß. Obwohl“, fuhr sie fort und ließ ihren Blick über Orvilles feucht schimmernde Stirn und Oberlippe gleiten, „wir daran hier auch keinen Mangel zu haben scheinen.“ Orville wurde rot. „Ihr seid ein ganz schön freches Frauenzimmer, Miss Donne.“
„Aber nicht annähernd spritzig genug für einen so anspruchsvollen Geschmack wie den Euren.“ Sie verfluchte sich für die flehentliche Note, die sie aus ihrer Stimme heraushörte.
Und Orville war sie ebenso wenig entgangen. Augenblicklich war sein Selbstvertrauen wiederhergestellt. „Darüber werde ich der Richter sein. “ Er beugte sich vor, und sein säuerlicher Atem streifte ihr Gesicht.
Der Mut, der Favor bis dahin geholfen hatte, verließ sie plötzlich. Blitzschnell drehte sie sich um, raffte die weiten Röcke und begann zu rennen. Einen Augenblick lang war das Rascheln ihrer Taftröcke, das Klappern ihrer Absätze und das leiser werdende Stimmengemurmel der Gesellschaft unten alles, was sie hörte.
Doch dann vernahm sie Laute, die ihr verrieten, dass Orville sich an ihre Verfolgung gemacht hatte.
Sie rannte an der Tür zu ihren eigenen Zimmern vorbei. Sie würden ihr keine sichere Zuflucht bieten. Niemals würde es ihr gelingen, rechtzeitig den Schlüssel zu holen, in das Schloss zu stecken und die Tür abzusperren. Ihre einzige Chance bestand darin, ihm zu entkommen.
„Wie wunderbar! “ rief er hinter ihr. „Ich liebe es, fangen zu spielen.“
Sie erreichte die Dienstbotentreppe und duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen hindurch; ihre eiligen Schritte hallten auf den ausgetretenen Steinstufen. Ein paar Mal drohte sie auszurutschen, und ihre weiten Röcke streiften die Wände der engen Wendeltreppe. Sie stieß die Tür am Fuß der Treppe auf und floh weiter. Durch eine andere Tür, eine weitere Treppe hinab, immer verfolgt vom Klang seiner Schritte. Durch noch mehr Türen, einen schwach beleuchteten Gang
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