Raine der Wagemutige
genannten McClairen-Schatz hörte, hatte er begriffen, was er damals gesehen hatte. Zu dem Zeitpunkt war seine Mutter bereits tot. Da er für ihre Clansleute keine sonderliche Zuneigung hegte und sogar noch weniger für seinen Vater, hatte er Stillschweigen bewahrt.
In seinen Jahren im Gefängnis hatte er oft an jene hässliche Brosche denken müssen. Sie war zu seinem Leitstern geworden. Er hatte Stunden damit verbracht, Pläne zu schmieden, wie er sie bekommen konnte, wo er mit ihr hingehen würde, wie er sie verkaufen würde und an wen, welchen Preis er verlangen würde. Seine ganze Zukunft hatte er auf der Beschaffung dieser Brosche aufgebaut, ohne darauf vertrauen zu dürfen, dass er überhaupt eine Zukunft besaß.
Und jetzt hatte er die Gelegenheit, seine Träume wahr zu machen.
Falls er dieses verfluchte Teeschränkchen finden konnte.
Ohne Wissen seines Vaters Wanton's Blush zu betreten war nicht schwierig zu bewerkstelligen gewesen. Raine hatte sich einfach unter die Dienstboten gemischt, die auf die Kutschen ihrer Herrschaft warteten. Er hatte eine Truhe vom Boden aufgehoben, hatte sie geschultert und war einem Lakaien in das Innere der Burg und die Dienstbotentreppe hinauf gefolgt. Dort hatte er seine Last abgestellt und hatte einen Abstecher in die Räume seiner Mutter gemacht, in der Annahme, innerhalb einer Stunde Wanton's Blush wieder verlassen zu können.
Doch dann war alles plötzlich schief gegangen. Nichts war mehr so, wie er sich erinnerte: Schlimmer noch, keiner der Gegenstände seiner Mutter war mehr an Ort und Stelle.
Raine nahm einen weiteren Schluck von dem Portwein, verschloss die Weinflasche wieder mit dem Korken und stellte sie sorgsam neben seinem Stuhl auf den Boden.
Seitdem hatte er in der ganzen Burg gesucht. Die oberen Stockwerke der Ostseite, seit Jahren dem allgemeinen Verfall preisgegeben, waren nunmehr völlig verlassen und wurden zur Gänze als Lagerräume genutzt. Und was da alles lagerte! Wenn auch sonst nichts, so hatte die letzte Woche Raine doch immerhin einen neuen Eindruck von dem Dämon verschafft, der seinen Vater antrieb. Nie zuvor war er Zeuge so großer Habgier eines einzigen Mannes geworden. Überall stapelten sich Kisten und Kasten, Einrichtungsgegenstände aller Art, voll gestopft mit einer faszinierenden Mischung aus Kostbarkeiten und Plunder.
Nichts war weggeworfen worden. Ein Mann konnte ein halbes Leben damit zubringen, zwischen Trümmern und Scherben, Schätzen und Tand, von einem Dutzend von Generationen angehäuft, nach dem kleinen orientalischen Schränkchen zu suchen.
Nicht, dass er die Wahl gehabt hätte. Er besaß kein Geld und keine Fertigkeiten, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Er konnte sich nicht - oder besser gesagt wollte sich nicht - an seinen Vater wenden. Carr glaubte, sein jüngerer Sohn verrotte immer noch in einem französischen Gefängnis, und was Raine betraf, so wollte er ihn auch weiterhin in diesem Glauben belassen. Er wäre immer noch dort, wäre sie nicht gewesen.
Raine verschränkte die Hände über seinem Bauch, ließ das Kinn auf seine Brust sinken und überdachte alles. Die Lage war verwickelt geworden.
Favor McClairen.
Er lächelte. Beinahe konnte er glauben, dass Gott doch nicht ganz so gleichgültig war, sondern einfach nur auf seinem himmlischen Thron saß und geduldig auf die Gelegenheit wartete, den Menschen übel mitzuspielen. Nichts anderes konnte für die Tatsache verantwortlich sein, dass ausgerechnet sie, von allen Frauen auf der Welt, ihm unabsichtlich zur Freiheit verholfen hatte.
Es war interessant, dass sie ihren richtigen Vornamen benutzte. Er verstand ihr Bedürfnis, geheim zu halten, dass sie eine McClairen war; Carr würde sie fortjagen, erführe er davon. Sie rechnete ganz offensichtlich nicht damit, dass jemand den Namen Favor wieder erkennen würde. Und ehrlich gesagt, musste er einräumen, wer würde noch wissen, dass das magere junge Mädchen, das ihm vor neun Jahren das Leben gerettet hatte, Favor geheißen hatte? Ganz bestimmt hatte niemand aus Carrs Haushalt nach dem Namen des Kindes gefragt. Außer ihm - und das erst Monate später, nachdem seine Wunden endlich verheilt waren, und das Mädchen längst verschwunden war.
Er schloss die Augen; selbst der ausgezeichnete Wein vermochte nicht den ihr eigenen erlesenen Geschmack von seinen Lippen zu spülen. Wäre ihr Name Sally oder Meg oder Anne gewesen, hätte er vielleicht wirklich getan, wessen sie ihn beschuldigt hatte, und sie aufs
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