Raine der Wagemutige
Tür rasch hinter sich.
Er erklomm die steile Wendeltreppe im Turm, um in das nächste Stockwerk zu gelangen, ohne einer Lichtquelle zu bedürfen, um seinen Weg zu finden. Er kannte Wanton's Blush gut, jeden Geheimgang und jede verkleidete Tür, jedes verborgene Zimmer und jedes Versteck. Öfter als er sich erinnern konnte, hatte er sich hierhin vor seinem Vater geflüchtet, seinem gewöhnlich gleichgültigen Schöpfer dankbar für den Aberglauben, der Carr von diesen Räumen der Burg fern hielt.
Im obersten Stockwerk angekommen, ging Raine zu dem schmalen Schlafzimmer, das er nach seiner Ankunft hier zu seinem Hauptquartier erhoben hatte. Dort griff er nach der Zunderbüchse und zündete die Laterne auf dem Tisch neben der Tür an. Erschöpft nahm er eine Flasche von Carrs bestem Portwein, die ebenfalls darauf stand, trat gegen den staubbedeckten Lehnstuhl, so dass dieser vor das einzige Fenster des Raumes schlitterte, von dem aus man einen herrlichen Ausblick auf das Meer hatte. Dann ließ er sich darauf nieder.
Er entkorkte die Flasche mit den Zähnen, nahm einen tiefen Zug und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Als er die Bartstoppeln auf seinen Wangen spürte, hielt er inne. Er brauchte eine Rasur. Sein Blick fiel auf das weiße Hemd, das immer noch leicht fleckig war, obwohl er es seit seiner Ankunft hier dreimal gewaschen hatte. Er musste plötzlich über seine Empfindlichkeit lächeln. Wenn auch sonst nichts, so hatten die Jahre seiner Kerkerhaft
in diesem französischen Schweinestall in ihm eine tiefe, dauerhafte Sehnsucht nach Sauberkeit geweckt.
Er legte den Kopf in den Nacken und streckte seine langen Beine von sich. Wenn er die Juwelen seiner Mutter gefunden hatte, würde er sich hundert neue Hemden kaufen und genauso viele Hosen. Nie wieder würde er schmutzige Unterwäsche oder eine schweißbefleckte Weste tragen. Vielleicht würde er sogar ein echter Exzentriker werden und nur noch durch ein duftendes Seidentuch atmen.
Wenn er die Juwelen seiner Mutter gefunden hatte? Heute schien es ihm, die Frage sollte besser lauten, falls er die Juwelen fand. Soweit er wusste, war er einer der wenigen Menschen, die den sagenumwobenen Schmuck überhaupt gesehen hatten.
Es war kurz vor ihrem Tod gewesen. Er war neun Jahre alt und gerade unterwegs, ein Stück Kuchen zu stibitzen. Er war an der Küchentür angekommen, nur um zu entdecken, dass seine Mutter sich dort aufhielt. Da er um ihre strikten Ansichten über Jungen wusste, die versuchten, Süßigkeiten zu ergattern, hatte er sich rasch in die Speisekammer geduckt.
Während er seine Mutter noch beobachtete, war ein böse dreinblickender Mann mit roten Haaren von draußen in die Küche gekommen. Aus Angst, beim Lauschen ertappt zu werden, hatte er sich tiefer in die Speisekammer zurückgezogen. Auch wenn er nicht viel hatte hören können, war es klar, dass der Fremde versuchte, die Mutter dazu zu nötigen, etwas zu tun, und genauso klar war es, dass sie sich nicht nötigen ließ.
Schließlich war der Fremde gegangen und kurz darauf auch die Mutter, ihr liebliches Gesicht von Sorgen gezeichnet. Einzig und allein aus dem Wunsch heraus, sie zu trösten, war Raine aus der Küche geschlüpft und ihr gefolgt. Aber statt sich zu ihren Räumen zu begeben, war sie in das kleine Arbeitszimmer gehastet, das sie benutzte, um mit Kaufleuten und Lieferanten zu verhandeln oder Haushaltsangelegenheiten zu regeln. Bevor er sie hatte einholen können, hatte sie die Tür hinter sich geschlossen.
Besorgt hatte Raine durch das Schlüsselloch gespäht. Er hatte gesehen, wie sie sich über ein schon recht mitgenommenes orientalisches Teeschränkchen bückte und sich an den Holzplatten auf der Oberseite zu schaffen machte.
Plötzlich hatte sich in der Mitte eine flache Schublade geöffnet.
Mit ehrfürchtiger Miene hatte seine Mutter einen schweren goldenen, einer Brosche ähnlichen Gegenstand daraus hervorgezogen. Er war groß, seine Form ähnelte entfernt einem Drachen oder einem Löwen, und war mit grob geschnittenen Steinen besetzt. Janet McClairen hielt ihn nur einen Augenblick lang in den Händen, bevor sie ihn wieder in dem Geheimfach verbarg.
Raine, der nicht sicher wusste, worum es sich bei dem Gegenstand handelte, begriff doch, dass es etwas war, was seine Mutter geheim halten wollte. Er hatte nie jemandem davon erzählt. Noch nicht einmal Ash. Ganz bestimmt nicht seinem Vater.
Erst später, als er in Gerüchten zum ersten Mal etwas von dem so
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