Raine der Wagemutige
dicker Wintermantel, den man abstreift. Dass Lady Fia ihr Interesse an ihrem Vater bemerkt hatte, war viel unwichtiger als die Tatsache, dass er heute nicht unter ihnen sein würde.
„Lord Carr wird nicht mit uns reiten?“
„Nein“, erwiderte Fia und musterte sie genauer. „Er steht selten vor Mittag auf. “
Sie beugte sich näher, lächelte mit falscher verschwörerischer Unbekümmertheit. „So, da habt Ihr einen nützlichen Hinweis. Selbstverständlich könnte ich Euch einen noch besseren Rat geben, aber irgendwie bezweifle ich, dass Ihr ihn annehmen würdet, nicht wahr?“
Bevor Favor zu einer Antwort ansetzen konnte, erschallten die Stimmen von Männern, die ihnen einen Gruß zuriefen. Fia wirbelte herum, um die Begrüßung zu erwidern. Ein Dutzend entschlossener Spaßmacher umringte sie, und bevor sie es sich versahen, wurden die jungen Damen von den Herren durch das Burgportal entführt. Favor war immer noch leicht verwundert von der Nachricht über die ihr unerwartet geschenkte Gnadenfrist.
Ein ganzer freier Tag! Frei von Muiras Missbilligung, Carrs erdrückender Nähe und sogar auch frei von Rafes beunruhigender Ausstrahlung. Das Gefühl der Erleichterung, das sie verspürte, war beinahe greifbar. Sie schenkte Tunbridge ein Lächeln, hatte eine witzige Antwort auf die geistreiche Bemerkung eines anderen Verehrers parat und plauderte angeregt mit der älteren Frau neben sich.
Sie kamen an den Ställen an und fanden ihre Pferde bereits gesattelt und unruhig hin und her tänzelnd vor, während sie auf ihre Reiter warteten. Das frühlingshafte Wetter schien sie ebenso zu beleben wie die Menschen. Der Stallmeister stand zwischen den Tieren und versuchte die reiterischen Fähigkeiten der verschiedenen Teilnehmer des Ausfluges einzuschätzen und sie mit den dazu passenden Pferden zu versehen.
Favor erhaschte einen Blick auf Jamie Craiggs hünenhafte Gestalt. Er kam zu ihr, eine fügsam aussehende Stute am Zügel führend. Ihre Ausgelassenheit erhielt einen Dämpfer, als sie durch seine Gegenwart wieder an Muiras weit reichenden Einfluss erinnert wurde und ihren durchdringenden Blick, dem nichts entging. Beinahe hätte sie Jamies Verkleidung als Thomas' Kutscher vergessen. Hier an Land wirkte er seltsam fehlplatziert, denn die See schien sein natürliches Element zu sein. Nicht zum ersten Mal fragte sich Favor, ob die anderen, deren Leben Muira lenkte und durcheinander brachte, sich ihre Einmischung je verbaten.
Jamie blieb direkt vor ihr stehen, seine Miene ausdruckslos. Vielleicht, wenn sie ihn darum bat, würde er Muira nicht verraten, dass sie einen Tag geschwänzt hatte. „Jamie, bitte .. .“
„Macht Euch keine Sorgen, Miss Donne“, fiel er ihr warnend ins Wort, sein Blick auf jemanden hinter ihr gerichtet. „Ich hab sie diesmal anders aufgezäumt.“
Sie wandte den Kopf. Lord Tunbridge war dicht hinter ihr.
„Natürlich. Danke, Jamie. Ihr könnt meiner Tante vielleicht ausrichten . . .“
„Ach, Miss! Eure Tante wird schlafen, bis Ihr zurückgekehrt seid. Ich werde ihr eine Magd schicken, sie zu wecken, wenn Ihr darauf besteht, aber ich an Eurer Stelle, wenn Ihr mir meine Anmaßung verzeiht, würde die alte Dame nicht von Eurem Tun unterrichten.“ Er zwinkerte ihr rasch verstohlen zu. Gott segne ihn! Er hieß es gut. Sie erwiderte sein Zwinkern mit einem unbeschwerten Lächeln, ihre gute Laune wieder völlig hergestellt.
Sie raffte ihre Röcke und wartete auf Jamie, dass er ihr beim Aufsteigen behilflich wäre, aber bevor er einen Schritt auf sie zu machen konnte, schlossen sich dünne, harte Finger um ihre Taille.
„Miss Donne.“ Tunbridges Atem strich ihr über den Rücken, bevor er sie schwungvoll in den Sattel hob.
Sie blickte erstaunt in das bleiche, zu ihr emporgewandte Gesicht des Mannes hinab. „Danke, Lord Tunbridge.“ Tunbridges schmallippiger Mund verzog sich zu einem Lächeln der Bewunderung. „Darf ich mir erlauben anzumerken, dass Ihr heute besonders gut ausseht, Miss Donne?“
Vielleicht ist er gar nicht so grässlich, entschied Favor, und da sie sich seiner schmerzlichen Vernarrtheit in Lady Fia und deren spöttischer Reaktion entsann, lächelte sie ihm zu. „Danke sehr, Sir.“
Ohne zu Jamie zu blicken, holte Tunbridge eine Münze aus seiner Tasche und warf sie in Richtung des Hünen. Seinen Dank murmelnd und seinen gewaltigen Kopf in einer bemerkenswerten Nachahmung demütiger Dankbarkeit senkend, zog sich Jamie zurück.
Tunbridges Blick blieb auf Favor
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