Raine der Wagemutige
Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Mit zusammengekniffenen Augen wartete sie darauf, zu hören, wie sich seine Schritte entfernten. Volle fünf Minuten verstrichen, bevor sie schließlich vernahm, wie er den Flur hinabschritt.
Mit einem Aufschluchzen sank sie gegen die Tür; ihre Schultern trafen mit einem dumpfen Geräusch auf das Holz. Sie presste sich die Hand auf die Augen, in dem Versuch, sich zu fangen; es misslang ihr kläglich.
Sie hatte es getan. Sie hatte Lord Carrs Interesse geweckt. Mehr als das. Er war völlig auf sie fixiert. Irgendwo in der langen Gemäldegalerie hatte sie ihn überzeugt, dass Janet McClairens Geist in ihr lebte.
Er hatte sie berührt. Ihre Wange mit dem Handrücken gestreichelt. Gott! Ihre Beine begannen zu zittern, in ihren Gliedern verspürte sie eine seltsame Schwäche. Sie glitt an der Tür zu Boden und schalt sich für solch kindische Überempfindlichkeiten.
Selbstverständlich berührte er sie! Wenn alles so ging, wie sie es geplant hatten, dann würde er viel mehr tun, als sie zu berühren. Das war schließlich von Beginn an ihr Ziel gewesen. Dass Carr sie heiratete. Daran hatte sich nichts geändert.
Tränen quollen ihr aus den Augen. Es folgten mehr und noch mehr, ein ganzer Tränenstrom, der unmöglich aufzuhalten war, rann über ihre Wangen und Lippen. Sie tropften von Kinn und Kiefer, durchtränkten die zarte Spitze, mit der ihr Ausschnitt besetzt war. Trügerische Tränen, verräterische Tränen, Tränen, die sich nicht um Pläne und Ziele, um Vorsätze und Absichten kümmerten.
Wenn, dachte sie hilflos, Rafe mich doch nicht zuerst berührt hätte.
18. KAPITEL
„Es sind noch nicht viele von uns hier, nicht wahr?“ Lady Fia lächelte Favor zu, ein süßes Lächeln, das ihr ohnehin schon wunderschönes Gesicht noch schöner aussehen ließ. Gleichzeitig brachte sie es jedoch fertig, ein wenig spöttisch zu wirken.
Favor, die neben Fia stand und auf das Eintreffen des Restes der Gesellschaft wartete, schenkte ihr wenig Beachtung. Rafe würde sich wundem, wo sie geblieben war. Himmel, sie hatte ihm noch nicht einmal die Kleider gebracht, die er sich von ihr hatte versprechen lassen. Wahrscheinlich würde er toben und sie verfluchen.
Vielleicht würde er sie vermissen.
Sie blinzelte, erstaunt über die Absurdität ihrer Gedanken. Sie musste solchen Unsinn aus ihrem Kopf verbannen. Sie täte gut daran, ein Lächeln zu Stande zu bringen, bevor Carr erschien, um die Gesellschaft zu dem geplanten dejeuner al fresco zu führen.
Der späte Oktobertag war strahlend schön und ungewöhnlich warm. Über Nacht hatte der Wind gedreht und wehte nun von Süden her, so lieblich und gemächlich wie ein Mädchen auf einem Sonntagsspaziergang.
Lady Fia, wie immer fantastisch, hatte ein Picknick arrangiert. Erst am heutigen Morgen hatte sie Einladungen verschickt. Sogar jetzt noch schliefen die erschöpfteren Nachtschwärmer von Wanton's Blush, und ihre Einladungen blieben ungelesen. Aber die meisten aus Fias hingebungsvollem Gefolge - die ihre Diener angewiesen hatten, dass man jede Nachricht von Lady Fia ihnen unverzüglich zur Kenntnis brächte - hatten ihre Zusage geschickt.
Favor war einer der wenigen Gäste gewesen, die nicht geschlafen hatten, als die Einladung eintraf, und das aus dem einfachen Grund, dass sie gar nicht geschlafen hatte. Sie hatte nur zögernd angenommen, da sie genau wusste, dass sie sich dadurch zu einem Tag in Carrs Gesellschaft verdammte, den sie bei der Schatzsuche mit Rafe hätte verbringen können.
Aber Carr zu meiden hieß nur, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Nun also wartete sie darauf, dass ihr Gastgeber eintraf, ihr seine Aufmerksamkeit schenkte und schließlich um ihre Hand anhielt. Und ihr wurde bei dem Gedanken daran so trüb und bleiern zu Mute, wie dieser schöne Tag süß und klar war.
„Miss Donne“, rief Lady Fia. „Fürwahr, Ihr seht krank aus. Vielleicht solltet Ihr besser auf Wanton's Blush bleiben, was meint Ihr?“
„Nein.“
Lady Fia schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Wenn Ihr Euch entscheidet, Euch uns nicht anzuschließen, kann ich Euch garantieren, werdet Ihr durch Eure Abwesenheit keine vertane Gelegenheit zu beklagen haben.“
„Wie bitte, Lady Fia?“ erkundigte sich Favor, endlich doch durch den unterschwelligen Hohn in der Stimme des Mädchens aus ihren Gedanken gerissen.
„Mein Vater, Miss Donne, reitet nicht.“
Favor wurde augenblicklich munter, ihre gedrückte Stimmung verflog, wie ein
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