Raine der Wagemutige
musterte das Mädchen mit kaum verhohlener Bitterkeit. Sie selbst, Muira, war es doch gewesen, die den Clan in dem vergangenen düsteren Jahrzehnt zusammengehalten hatte, nicht dieses hochmütige kleine Luder! Es war ihr Plan, der den McClairen wieder zu Macht und Ansehen verhelfen würde, nicht der dieses . . . dieses Kindes. Sie allein, Muira Dougal, war das dunkle, rachsüchtige Herz des Clans. Und jetzt forderte diese dreiste kleine Schlampe, die noch nicht einmal trocken hinter den Ohren war, sie heraus.
„Ja“, antwortete Favor, ohne etwas von der düsteren Richtung zu bemerken, die Muiras Gedanken eingeschlagen hatten.
Muira, deren Blick nicht von Favors harten, entschlossenen Zügen wich, nickte zustimmend. Und schmiedete ihre eigenen Pläne.
“. . . und wenn stimmt, was Euer Vater erzählt, dann werdet Ihr noch vor Weihnachten in London sein“, schwatzte Gunna, obwohl sie gewöhnlich sinnloses Geplapper nicht billigte. Fia fuhr fort, Gunna in dem Spiegel zu beobachten, der über ihrem Frisiertisch hing. Die verhutzelte, entstellte Alte bürstete ihr das Haar mit langen Strichen, verwandelte die ungebärdigen Locken in einen glatten, schimmernden Vorhang aus schwarzer Seide. „Ich denke, Euch wird London gefallen. Was meint Ihr?“
„Wie könnte es mir nicht gefallen? Es ist nicht Wanton's Blush“, erwiderte Fia.
„Aye“, sagte Gunna. „Das ist nun mal unbestritten, und Ihr habt Recht, diesen grässlichen Ort hinter Euch zu lassen. Es ist nichts weiter als ein Mausoleum, das die Gäste Eures Vaters wie ein Bordell benutzen.“
„Was für eine reizende Allegorie“, entgegnete Fia mit leiser Ironie. „Du hast wirklich ein Talent für Worte, Gunna.“
Die Dienerin lachte keckernd. „Nun, ich habe ganz bestimmt keine sonderliche Vorliebe für dieses düstere Gemäuer, aber. . .“, sie richtete ihren Blick auf Fia, „ich dachte immer, Euch läge ein wenig daran. “
„Ich würde es eher mildes Interesse nennen“, verbesserte sie Fia. „Ich hätte die Burg gerne einmal so gesehen, wie sie war, als sie noch Maiden's Blush genannt wurde. Einfach aus Neugier.“
Gunna antwortete darauf nichts, da sie sich auf eine widerspenstige Strähne konzentrierte. Augenblicke verstrichen. Die untergehende Sonne tauchte das Schlafzimmer in ihr bernsteinfarbenes Licht. Draußen schlugen die kahlen Äste der alten Eichen sachte gegen die Fenster, wie ein Liebhaber, der um Einlass bat.
„Du weißt, dass er hier ist, nicht wahr?“ sagte Fia schließlich.
Gunna hielt inne. „Von wem sprecht Ihr?“
„Raine“, erwiderte Fia und drehte sich in ihrem Stuhl um. Suchend betrachtete sie Gunnas Gesicht. Die entstellten Züge gaben wenig preis. Das hatten sie noch nie getan. „Du wusstest, dass er hier ist, nicht wahr?“
„Aye“, gab Gunna zu.
Fia nickte, dann wandte sie sich wieder um, so dass sie in den Spiegel blickte. Das hatte sie sich gedacht. Und dass Gunna, der sie immer vertraut hatte, dieses Wissen nicht mit ihr geteilt hatte, war nur ein kaum schmerzhafter Stich. Sie war daran gewöhnt, von anderen enttäuscht zu werden. „Wann hast du es herausgefunden?“
„Gestern. Er ist wohl schon seit ein paar Wochen hier, ohne dass ich etwas davon geahnt hätte. Oder irgendjemand anders.“
„Wie tollkühn von ihm. Noch nicht einmal Vater?“ „Nein. Ich hab's Euch nicht gesagt, weil er nicht wollte, dass Ihr davon wisst, und ich nicht will, dass Ihr durch seine scheinbare Gleichgültigkeit gekränkt werdet, auch wenn ich eigentlich nicht glaube, dass es wirklich Gleichgültigkeit ist, sondern viel eher Misstrauen.“ Sie fing Fias Blick im Spiegel auf. „Er kennt Euch nicht, Fia“, erklärte sie mit flacher Stimme. „Und alles, woran er sich erinnert, ist, dass Ihr Eures Vaters Schatten wart.“
„Er hat in beiden Punkten Recht“, entgegnete Fia gelassen. „Er hat keinen Grund, Interesse an mir zu bekunden oder mir sein Vertrauen zu schenken.“
„Ihr braucht Euch meinetwegen keine Mühe zu geben, gefühllos zu scheinen, Fia Merrick. Es ist Verschwendung Eurer beachtlichen schauspielerischen Fähigkeiten. Ich kenne Euch besser, als dass ich es Euch abnähme.“
„Tust du das?“ wisperte Fia plötzlich verloren. Sie klang so kläglich wie ein kleines Mädchen, das unfähig ist, seine wehmütige Hoffnung zu verbergen, dass es tief innerlich in Wahrheit anständig und ehrenhaft und . . . gut war, obwohl Fia selbst nur zu gut wusste, wie unwahrscheinlich das war. Sie neigte den Kopf,
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