Raketenmänner (German Edition)
Tasche, die er unter dem Tisch verstaut hatte, und baute ihn zwischen Lemming und sich auf.
»Das ist der Vorteil am Zugfahren, nicht wahr?«, sagte Lemming. »Also nicht, dass man ab und zu mal jemanden überfährt, sondern dass man zwischendurch was arbeiten kann. Aber die Internetverbindung ist ja meistens katastrophal.«
Kamerke starrte auf den Bildschirm, schob ein paar Dateien von hier nach da, öffnete schließlich das Textverarbeitungsprogramm und gab vor, eine Geschichte zu lesen, die er neulich geschrieben hatte. Unbeeindruckt redete Lemming weiter.
»Ich finde, wenn sie schon ständig verspätet ist, die Bahn, sollte sie mehr Sorgfalt auf die Auswahl ihres Personals legen.« Lemming sah aus dem Fenster. »Sieht nach Regen aus.«
Kamerke blickte auf.
Fehler.
»Haben Sie eine Frau?«, wollte Lemming unvermittelt wissen.
»Ich denke schon.«
Die Antwort brachte Lemming kurz aus dem Konzept. Doch er fing sich schnell und sagte, dass er die Frauen nicht verstehe. »Schauen Sie, meine Frau klaut. Also nicht, dass wir zu wenig Geld hätten, nein, nein, im Gegenteil, bei mir geht es gerade aber mal so richtig raketenmäßig ab, aber sie klaut Schuhe und Handtücher und Batterien und was weiß ich. Sie sagt, sie will zum Arzt, aber ich sage, reiß dich einfach mal zusammen! Was macht Ihre Frau?«
»Wartet auf mich. Hoffe ich.«
»Wie lange waren Sie unterwegs? Drei Tage, vier Tage? Die ganze Woche?«
»Lange genug.«
»Da bin ich aber mal gespannt, wer bei Ihnen die Tür aufmacht!«
Das bin ich auch, dachte Kamerke. Die Bedienung brachte das Weißbier. Kurz darauf fuhr der Zug weiter.
»Wissen Sie«, sagte Lemming, »wenn diese Leute sich auf der Schnellstrecke erst in letzter Sekunde vor den Zug schmeißen, kriegt der Lokführer das gar nicht mit, da sieht man die Sauerei erst im Ausbesserungswerk.« Lemming blickte wieder zum verhangenen Himmel hoch. »Da kommt heute noch richtig was runter.«
Und Kamerke kam einfach nicht drauf, an wen ihn dieser Lemming erinnerte.
4
Kamerke war überrascht. Mit einem Afrikaner hatte er nicht gerechnet. Auch nicht mit der fröhlichen Gesellschaft, die sich da in seinem Haus vergnügte. Wo war seine Frau? Es regnete. Das Vordach über der Haustür war nur schmal, das Wasser tropfte auf den Kragen seines Jacketts.
»Sie wünschen?«, fragte der groß gewachsene schwarze Mann in dem weißen Hemd sehr freundlich, und mit einem Mal kam er Kamerke bekannt vor. Diesmal war es anders als bei diesem Lemming. Der freundliche Afrikaner erinnerte ihn nicht an irgendwen anderes, sondern Kamerke wusste, dass er genau diesen Mann kannte, nur eben nicht, woher. Im Wohnzimmer liefen zwei schwarze Kinder umher, auf den beiden Sofas verteilten sich drei Erwachsene und aßen Gegrilltes.
Ja, dachte Kamerke, was wünsche ich? Weil er die Antwort nicht wusste, drehte er sich um und betrachtete den sehr bunten VW -Bulli, der ihm schon aufgefallen war, als er in die Straße eingebogen war.
Ich wünsche mir, hätte er beinahe gesagt, ein wenig Glück und Zufriedenheit und das Gefühl, das Richtige zu tun, aber er sagte nur: »Ist meine Frau zu Hause?«
Der Blick des Mannes in der Tür veränderte sich. Er verneigte sich, stammelte eine Entschuldigung und konnte Kamerke erst mal nicht in die Augen sehen. Er öffnete die Tür bis zum Anschlag, trat zur Seite und verneigte sich wieder. Das war Kamerke schon fast unangenehm. Genau in diesem Moment kam seine Frau aus der Küche. Als sie Kamerke sah, wäre ihr fast der Teller mit dem Couscous aus der Hand gefallen, den sie vor sich her trug. Es war sehr viel Couscous auf dem Teller. Merkwürdig, was einem in so einem Moment alles auffällt, dachte Kamerke.
Seine Frau kam zu ihm herüber.
»Warum klingelst du?«, fragte sie.
»Ich habe meinen Schlüssel vergessen. Warum isst du so viel Couscous?«
»Ich habe das für die anderen gemacht, aber die wollten lieber Kartoffeln.«
Der Mann, der noch immer den Türgriff in der Hand hielt, ließ diesen los und sagte: »Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.«
»Ich war unterwegs«, gab Kamerke zurück. Im Wohnzimmer war es still geworden. Die Erwachsenen auf den Sofas starrten ihn genauso an wie die Kinder, die sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen hatten.
»Das ist meine Familie«, sagte der Mann, und Kamerke blickte seine Frau an, die ihm wiederum ein Stirnrunzeln zurückschickte.
»Was denn?«, sagte sie.
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