Rambo
nach ihr und schlug eine südliche Richtung ein. Dann fürchtete er, wieder das Zeitgefühl verloren zu haben. Daß er nachts über bewußtlos gewesen war, Sonnenaufgang mit Sonnenuntergang verwechselt hatte und jetzt in die falsche Richtung ging, nach Norden statt nach Süden. Er starrte die Sonne an, die langsam unterging, und allmählich beruhigte er sich wieder. Schließlich war es Nacht, und als er nichts mehr sehen konnte, brach er zusammen.
Am Morgen erwachte er im Geäst eines Baumes. Er konnte sich nicht erinnern, wann oder wie er da hinaufgeklettert war, aber er wäre tot gewesen, hätte er es nicht getan. Ein Mann allein und bewußtlos wäre von den Raubtieren zerrissen worden, die nachts den Dschungel durchstreiften. Er blieb den ganzen Tag auf dem Baum sitzen und bewegte von Zeit zu Zeit die Zweige hin und her, um sich bessere Deckung zu verschaffen. Er schlief oder aß langsam von dem Fleisch und dem Reiskuchen, die er zu seinem Erstaunen in einem Säckchen, das ihm jemand um den Hals gebunden hatte, entdeckte. Die Leute, die ihn festgehalten und ihm etwas eingeflößt hatten, mußten Dorfbewohner gewesen sein. Die Nahrung war von ihnen. Er hob sich den Rest für die Nacht auf, stieg vom Baum und ging – sich nach der Sonne orientierend – weiter nach Süden. Aber warum hatten ihm die Dorfbewohner geholfen? Weil er so elend aussah und sie ihm eine Überlebenschance geben wollten?
Jetzt marschierte er nur noch nachts, gebrauchte die Sterne als Kompaß und nährte sich von Wurzeln, Borke und Kresse, die er an den Flüssen fand. Oft hörte er im Dunkeln Soldaten nahe vorbeigehen und blieb bewegungslos im Gebüsch liegen, bis nichts mehr zu hören war. Manchmal ließ sein Delirium nach, überfiel ihn dann aber wieder um so stärker. Er bildete sich ein, den Abzug eines Sturmgewehrs knacken zu hören und warf sich ins nächste Gebüsch, bis er merkte, daß es nur das Knacken eines Zweiges gewesen war, auf den er getreten war.
Zwei Wochen später begann es in Strömen zu regnen. Schlamm. Moder. Wolkenbrüche, so dicht, daß er kaum atmen konnte. Er ging weiter, benommen vom Peitschen des Regens, wütend über den Schlamm und die nassen Büsche, die sich an ihn zu klammern schienen. Er wußte nicht mehr, wo Süden war. Gelegentlich zeigte sich ein Riß in der nächtlichen Wolkendecke, und er konnte sich an einem Stern orientieren, aber dann schlossen sich die Wolken wieder, und er mußte so weitergehen. Wenn sich dann die Wolkendecke wieder öffnete, hatte er meistens die Richtung verloren. Eines Morgens bemerkte er, daß er im Kreise gewandert war; von da an marschierte er nur noch am Tage. Er kam auf diese Weise langsamer vorwärts, weil er sich bei Tageslicht mehr in acht nehmen mußte, nicht entdeckt zu werden. Wenn Wolken die Sonne verdeckten, wählte er sich einen Berggipfel oder einen hohen Baum als Orientierungspunkt. Und jeden Tag, jeden verdammten Tag goß es in Strömen.
Dann kam er aus dem Wald, stolperte über ein Feld, und jemand schoß auf ihn. Er ließ sich zu Boden fallen und kroch zurück zu den Bäumen. Noch ein Schuß. Menschen kamen angerannt. »Ich habe dir doch zugerufen, du sollst dich zu erkennen geben«, sagte jemand. »Wenn ich nicht gesehen hätte, daß du unbewaffnet bist, hätte ich dich über den Haufen geschossen. Steh auf, verdammt noch mal, und weise dich aus.«
Amerikaner. Er fing an zu lachen. Er konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Einen vollen Monat behielten sie ihn im Lazarett, bis er nicht mehr total hysterisch reagierte. Sein Absprung im Norden hatte Anfang Dezember stattgefunden, und jetzt war es Anfang Mai, sagte man ihm. Wie lange er gefangen gewesen war, wußte er nicht. Wie lange er auf der Flucht gewesen war, wußte er auch nicht. Aber von damals bis heute hatte er zwischen der Absprungstelle und diesem amerikanischen Stützpunkt hier im Süden eine Strecke von fast sechshundert Kilometern zurückgelegt. Was ihn so zum Lachen gebracht hatte, war die Tatsache, daß er sich schon seit Tagen auf amerikanischem Gebiet befunden hatte, und daß die Soldaten, vor denen er sich nachts versteckt hatte, Amerikaner gewesen sein mußten.
11
Er zögerte es hinaus, so lange er konnte, die Duschkabine zu verlassen. Er wußte, er würde es nicht ertragen können, wenn Teasle ihm die Schere an den Kopf hielt und anfing zu schneiden. Unter dem Wasserstrahl stehend, steckte er den Kopf aus der Kabine, und da stand Galt am Fuße der Treppe mit einer Schere, einer Dose
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