RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
wenig, da hast du recht. Aber ich weiß, daß die
Gottheiten Schöpfungsmächte sind und ihre Kräfte nur von Eingeweihten und nur
mit größter Sorgfalt genutzt werden dürfen.«
»Ich erzähle hier ein Heldenepos! Derartige Gottheiten
gäben keine guten Figuren ab. Welchen Held sollte ich wohl über einen Achilles
oder über einen Patroklus setzen? Wenn du von ihren Taten erst einmal gehört
haben wirst, wirst du nichts anderes mehr lesen wollen!«
Ameni behielt seine Gedanken für sich. Homers
Überschwang entsprach genau dem Ruf, der griechischen Dichtern anhing. Die
ägyptischen Weisen sprachen lieber von Erkenntnis als von Schlachten, mochten
sie noch so großartig sein, aber ihm stand es nicht zu, einem Gast, der zumal
viel älter war, Lehren zu erteilen.
»Der Regent hat mich leider schon lange nicht mehr
besucht«, beklagte sich Homer.
»Er weilt in Abydos.«
»Im Osiris-Tempel? Dort, wo angeblich die großen
Mysterien enthüllt werden?«
»Das ist die Wahrheit.«
»Und wann wird er zurückerwartet?«
»Ich weiß es nicht.«
Homer zuckte mit den Achseln und trank von seinem
kräftigen, mit Anis und Koriander gewürzten Weim.
»Man hat ihn endgültig verbannt.«
Ameni fuhr hoch.
»Was willst du damit sagen?«
»Daß der Pharao aus Enttäuschung über die Regierungsunfähigkeit
seines Sohnes ihn zum Priester gemacht und für ewige Zeiten in den Tempel von
Abydos verbannt hat. Ist das bei einem so religiösen Volk wie dem deinen nicht
das beste Mittel, sich eines Hemmschuhs zu entledigen?«
Ameni war niedergeschlagen.
Wenn Homer recht behielte, würde er Ramses nie mehr
wiedersehen. Gern hätte er sich mit den Freunden beraten, aber Moses war in
Karnak, Acha in den Ostländern und Setaou in der Wüste. Er war allein, und um
seine Angst zu bezähmen und seine Ruhe wiederzugewinnen, arbeitete er
verbissen.
Seine Gehilfen hatten einen gewaltigen Stapel
unerfreulicher Berichte in seinem Arbeitszimmer aufgetürmt. Doch trotz
bohrender Nachforschungen gab es keinerlei Hinweis auf den Eigentümer der
Werkstatt, die minderwertige Tintensteine hergestellt, und auch nichts über den
Verfasser jenes Sendschreibens, das den König und seinen Sohn nach Assuan
gelockt hatte.
Zorn packte den jungen Schreiber. Wie erklärte sich
ein so enttäuschendes Ergebnis nach all den Bemühungen? Der Schuldige mußte
doch Spuren hinterlassen haben, und keiner wußte sie zu deuten! Ameni setzte
sich auf den Boden und nahm den ganzen Vorgang nochmals zur Hand, angefangen
bei seinen eigenen ersten Nachforschungen in besagter Werkstatt.
Als er bei dem unleserlichen Schriftzeichen angekommen
war, das als »Chenar« gedeutet werden konnte, befiel ihn eine Ahnung über das
mögliche Vorgehen dieses Dunkelmannes, eine Ahnung, die sich rasch in Gewißheit
wandelte.
Jetzt war alles klar, aber sein auf ewig verbannter
Freund würde die Wahrheit nie erfahren und der Schuldige nie bestraft werden.
Diese Ungerechtigkeit erboste den jungen Schreiber.
Seine Freunde mußten ihm helfen, diesen verabscheuungswürdigen Kerl vor ein
Gericht zu bringen!
Iset, die Schöne, bestürmte Nefertari, unverzüglich
zur Königin vorgelassen zu werden. Da Tuja aber mit der Oberpriesterin des
Hathor-Tempels die Festvorbereitungen besprach, mußte die junge Frau sich wohl
oder übel gedulden. Vor Aufregung zwirbelte sie den Rand ihres Hemdsärmels so
lange, bis das feine Leinen riß.
Endlich öffnete Nefertari die Tür des Audienzsaales,
Iset stolperte hinein und warf sich der großen königlichen Gemahlin zu Füßen.
»Majestät, ich flehe um Beistand!«
»Was ist dir geschehen?«
»Ramses, das weiß ich genau, will bestimmt nicht
hinter Tempelmauern sein Leben fristen! Was hat er denn verbrochen, um so hart
bestraft zu werden?«
Tuja hob Iset auf und bat sie, auf einem Stuhl mit
niedriger Lehne Platz zu nehmen.
»Ein Leben im Tempel erscheint dir also wie etwas
Grauenvolles?«
»Ramses ist achtzehn Jahre alt! Nur ein Greis könnte
sich abfinden mit solch einem Schicksal. Eingesperrt in Abydos, in seinem
Alter…«
»Wer hat dich so beunruhigt?«
»Sein Vertrauter, Ameni.«
»Mein Sohn weilt zwar in Abydos, aber nicht als
Gefangener. Ein künftiger Pharao muß eingeweiht werden in die Mysterien Osiris’
und sich ein genaues Bild machen von allem, was mit dem Tempel zusammenhängt.
Sobald seine Lehrzeit abgeschlossen ist, wird er zurückkehren.«
Iset, die Schöne, war erleichtert, auch wenn sie sich
eine Blöße gegeben hatte.
Nefertari
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