RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
hinter sich gelassen
hatte, entdeckte er die Fassade des überdachten Tempels. Vor jeder Königsstatue
in Osiris-Gestalt lagen Blumengebinde und standen Körbe mit Lebensmitteln.
»Dies ist das Lichtland«, erklärte Sethos.
Die mit Gold- und Silberschmelz überzogenen Tore aus
libanesischem Zedernholz schienen jeden Zugang zu verwehren.
»Möchtest du noch weiter vordringen?«
Ramses nickte.
Die Tore öffneten sich einen Spaltbreit.
Ein weißgekleideter Priester mit kahlgeschorenem Kopf
gebot Ramses, sich herabzubeugen. Und sobald er seine Füße auf den Silberboden
gesetzt hatte, fühlte er sich in einer anderen Welt, die ganz von Weihrauchduft
erfüllt war.
Vor jede der sieben Kapellen stellte Sethos eine
kleine Statue der Göttin Maat als Verkörperung der Gesamtheit der Opfergaben.
Dann führte er seinen Sohn in die Ahnengalerie, wo die Namen der Pharaonen
eingemeißelt waren, die seit Menes, dem Einiger der beiden Länder, über Ägypten
geherrscht hatten.
»Sie sind tot«, sagte Sethos, »aber ihr Ka lebt
weiter. Ka speist dein Denken und lenkt dem Tun. Solange der Himmel besteht,
wird auch dieser Tempel bestehen. Hier wirst du mit den Göttern Zwiesprache
halten und ihre Geheimnisse ergründen. Pflege ihre Behausung, und erwecke das
von ihnen geschaffene Licht zum Leben.«
Vater und Sohn lasen die Hieroglyphenreihen, auf denen
die Götter dem Pharao befahlen, Tempelgrundrisse zu entwerfen und das
königliche Amt hochzuhalten. Auch ihre Altäre sollte er schmücken, um sie zu
beglücken, denn ihr Glück erhelle die Erde.
»Der Name deiner Ahnen steht für immer und ewig am
bestirnten Himmel«, verriet Sethos. »Ihre Annalen sind die Jahrmillionen.
Regiere gemäß der Regel, pflanze sie ein in dein Herz, denn sie fügt alle
Formen des Lebens zu einem harmonischen Ganzen.«
Eine Darstellung erstaunte Ramses. Sie zeigte einen
Jüngling, der mit Hilfe des Pharaos einen wilden Stier einfing! Da hatten die
Steinmetze jenen Augenblick verewigt, als sein Leben ins Wanken geraten war,
diesen Augenblick, den jeder künftige König erlebt hatte, ohne sich bewußt zu
sein, welch gewaltige Bestimmung seiner harrte.
Sethos und Ramses verließen den Tempel und gingen auf
eine baumbestandene Kuppe zu.
»Dies ist Osiris’ Grabstätte. Nur wenige Menschen
haben sie bisher gesehen.«
Sie stiegen hinab zu einem unterirdischen Eingang, dem
eine Reihe von Stufen folgte, an die sich ein gewölbter, etwa zweihundert Ellen
langer Gang anschloß. Die Wandinschriften beschrieben die Pforten zur
jenseitigen Welt. Dann bogen sie im rechten Winkel nach links ab und gelangten
vor ein ganz außergewöhnliches Denkmal. Zehn stämmige Pfeiler standen da auf
einer Art wasserumspülter Insel und stützten das Dach eines Heiligtums.
»Jahr um Jahr, wenn wir seinen Kult feiern, entsteigt
Osiris dieser riesigen Grabstätte. Dann ist er der Urhügel, der aus dem Urmeer
auftauchte, als der Eine Zwei wurde und Tausende von Formen erzeugte und
dennoch weiterhin der Eine blieb. Diesem unsichtbaren Ozean entstammen der Nil
und die Überschwemmung, der Tau, der Regen und das Wasser der Quellen. Auf ihm
fährt die Sonnenbarke, er umgibt unsere Welt und das All. Hier tauche du deinen
Geist ein, damit er die Grenzen des Sichtbaren überwindet und seine Kraft
schöpft aus dem, was weder Anfang noch Ende hat.«
In der folgenden Nacht wurde Ramses in die
Osiris-Mysterien eingeweiht.
Er trank frisches Wasser aus dem unsichtbaren Ozean
und aß Korn aus dem Leib des wiedererweckten Osiris. Dann kleidete man ihn in
zartes Linnen, damit er teilnehmen konnte an der Prozession der Gottgetreuen,
die ein Priester mit Schakalsmaske anführte. Seths Anhänger versperrten ihnen
den Weg, wild entschlossen, sie zu vernichten und Osiris aus dem Felde zu
schlagen. Ein Kampfritual begann, untermalt von beklemmender Musik. Ramses, in
der Rolle des Horus, des Sohns und Nachfolgers Osiris’, verhalf den Söhnen des
Lichts zum Triumph über die Kinder der Finsternis. Sein Vater indes wurde im
Laufe des Kampfes tödlich getroffen.
Seine Getreuen trugen ihn unverzüglich auf den geheiligten
Hügel und hielten Totenwache, an der sich auch Priesterinnen beteiligten. Auch
Königin Tuja war darunter. Sie verkörperte Isis, die »Zauberreiche«, die dank
ihrer beschwörenden Anrufungen die verstreuten Teile des Osiris-Leibes wieder
zu vereinen vermochte und den toten Gott so zu neuem Leben erweckte.
Ramses bewahrte jedes der in dieser Nacht außerhalb
der Zeit
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