RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Schreiber Tod in Leben
verwandeln? Daß ein Mann der Schrift eine solche Macht haben sollte, konnte er
sich nicht vorstellen! Keine befriedigende Antwort fiel ihm ein. Diese Lücke,
zusätzlich zu anderen Flüchtigkeitsfehlern, würde seine Aussichten zunichte
machen. Er hatte sich unnötig geplagt. Dieses Rätsel vermochte er nicht zu
lösen.
Aber selbst wenn er die Prüfung nicht bestand, würde
er Ameni nicht fallenlassen. Er würde ihn mitnehmen zu Setaou und den
Schlangen, in die Wüste. Es war immer noch besser, jeden Moment den Tod zu
gewärtigen, als wie ein Gefangener am Leben zu bleiben.
Ein Pavian kletterte eine Palme herab und spazierte in
den Prüfungsraum. Er ließ den Aufsehern keine Zeit, etwas zu unternehmen, und
sprang Ramses auf die Schultern. Der verharrte regungslos. Der Affe raunte dem
jungen Mann etwas ins Ohr und verschwand, wie er gekommen.
Ein Weilchen waren der Sohn des Königs und das
geheiligte Tier des Gottes Thot, des Schöpfers der Hieroglyphen, zu einem Wesen
verschmolzen. Ihre Gedanken fügten sich ineinander, der Geist des einen führte
die Hand des anderen.
Ramses las die Antwort, die ihm eingeflüstert worden
war: Der feine Sandsteinkratzer, mit dem der Schreiber die Gipsschicht ablöst,
die er beschrieben hat, um sie durch eine neue zu ersetzen, macht aus dem toten
Täfelchen wieder ein lebendiges, weil es nun wie neu und wieder verwendbar ist.
Ameni hatte solche Schmerzen, daß er den Tragekorb
nicht mehr hochheben konnte. Seine Knochen schienen zu bersten. Nacken und Hals
waren so starr wie ein toter Ast. Selbst unter Schlägen hätte er keine Kraft
mehr, noch einen Schritt zu tun. Wie grausam das Schicksal mit ihm umging!
Lesen, schreiben, Hieroglyphen zeichnen, die Worte der Weisen in sich
aufnehmen, Texte abschreiben, die die menschliche Zivilisation begründet hatten
– welch herrliche Zukunft hatte er sich ausgemalt! Ein letztes Mal versuchte er,
die Last zu bewegen.
Eine kräftige Hand nahm sie ihm ab.
»Ramses!«
»Was hältst du hiervon?«
Der Prinz zeigte seinem Freund einen Binsenhalter aus
vergoldetem Holz in Form einer Säule, gekrönt von einer Lilie, mit der eine
Inschrift poliert werden konnte.
»Der ist ja großartig!«
»Er gehört dir, sofern du die Inschrift zu entziffern
vermagst.«
»Möge Thots Pavian den königlichen Schreiber schützen…
Das ist doch nicht schwer zu lesen!«
»Ich, Ramses, kraft meines Amtes als königlicher
Schreiber, ernenne dich zum Vorsteher meiner königlichen Schreibstube.«
NEUN
die schilfhütte am Rande eines Kornfelds stand nachts verlassen. Sie
wurde zum Liebesnest für Iset, die Schöne, und Ramses. Wächter lag auf der
Lauer, er hätte jeden Störenfried abgewehrt.
In ihrer Sinnenlust harmonierten die beiden jungen
Menschen. Ohne ein Wort zu wechseln, schenkten sie einander phantasievoll,
leidenschaftlich und unermüdlich Stunden voller Beglückung.
In dieser Nacht, nachdem ihr Verlangen gestillt war,
legte Iset ihren Kopf auf die Brust des Geliebten und summte glücklich vor sich
hin.
»Warum bleibst du bei mir?«
»Weil du königlicher Schreiber geworden bist.«
»Strebt eine Person deines Standes nicht eine bessere
Partie an?«
»Das Leben eines Sohns von Sethos zu teilen, was
könnte man sich Höheres erträumen?«
»Eine Ehe mit dem zukünftigen Pharao.«
Die junge Frau schürzte die Lippen.
»Daran habe ich auch schon gedacht, aber er gefällt
mir nicht. Erist zu fett, zu schwerfällig, zu verschlagen. Von ihm
berührt zu werden stößt mich ab, daher habe ich beschlossen, dich zu liehen.«
»Beschlossen?«
»Jedes menschliche Wesen besitzt eine bestimmte Kraft
zu lieben. Die einen lassen sich verführen, die anderen verführen. Ich werde
mich nicht zum Spielzeug eines Mannes machen, auch wenn er König ist. Ich habe
dich erwählt, Ramses, und du wirst mich erwählen, denn wir sind aus gleichem
Holz geschnitzt.«
Als Ramses, noch erhitzt von der leidenschaftlichen
Nacht in den Armen der Geliebten, durch den Garten des Hauses ging, das er
seinem Amt verdankte, schoß Ameni aus seiner Schreibstube heraus und versperrte
ihm den Weg.
»Ich muß mit dir reden!«
»Ich bin müde. Kannst du dich gedulden?«
»Nein, nein! Es ist zu wichtig.«
»Dann gib mir wenigstens zu trinken.«
»Milch, frisches Brot, Datteln und Honig: das
prinzliche Frühstück steht bereit. Doch zuvor soll der königliche Schreiber
Ramses noch erfahren, daß er geladen ist, in Begleitung seiner Amtsbrüder
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