RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
wiederholt nahegelegt, Memphis so bald wie
möglich zu verlassen.«
»Hast du ihn nicht herausgefordert, indem du dich zum
Liebhaber Isets, der Schönen, aufschwangst?«
Ramses konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
»Du weißt also…«
»Ist es nicht meine Pflicht?«
»Werde ich denn ständig überwacht?«
»Zum einen bist du ein Königssohn, zum anderen ist
Iset, die Schöne, eher geschwätzig.«
»Wieso sollte sie sich rühmen, einem Unterlegenen ihre
Unschuld geschenkt zu haben?«
»Vermutlich, weil sie an dich glaubt.«
»Ein Abenteuer, nichts weiter, um meinen Bruder zu
reizen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Liebst du sie,
Ramses?«
Der junge Mann zögerte.
»Ich liebe ihren Körper, möchte sie wiedersehen,
aber…«
»Gedenkst du sie zu heiraten?«
»Sie zu heiraten?!«
»So ist der Lauf der Dinge, mein Sohn.«
»Nein, noch nicht…«
»Iset, die Schöne, ist eine Person, die genau weiß,
was sie will. Da sie dich erwählt hat, wird sie so schnell nicht ablassen.«
»Ist mein Bruder denn nicht die bessere Wahl?«
»Ihre Meinung scheint das nicht zu sein.«
»Sofern sie nicht beschlossen hat, uns beide zu verführen!«
»Hältst du eine junge Frau für so gerissen?«
»Wie soll man, nach dem, was Ameni zugestoßen ist,
noch irgendeinem Menschen vertrauen?«
»Sollte auch ich deines Vertrauens nicht mehr würdig
sein?«
Ramses ergriff die rechte Hand seiner Mutter.
»Ich weiß, du wirst mich nie verleugnen.«
»Was Ameni betrifft, so gibt es eine Lösung, die ihre
Vorteile hätte.«
»Welche?«
»Werde königlicher Schreiber, dann kannst du dir
deinen Gehilfen wählen.«
Mit einer Zähigkeit, die Ramses Bewunderung entlockte,
hielt Ameni trotz der Anstrengungen, die man ihm zumutete, durch. Aus Furcht,
der Sohn Sethos’ – wie sie herausgefunden hatten – könne sich erneut
einmischen, quälten die Stallburschen ihn nicht mehr. Einer von ihnen, der es
bereute, belud die Tragkörbe nicht mehr so übermäßig und reichte dem
schwächlichen Jüngling, der trotz allem von Tag zu Tag sichtbarer verfiel, auch
schon mal eine helfende Hand.
Als Ramses sich zum Wettbewerb um den königlichen
Schreiberposten einfand, war er unvorbereitet. Die Prüfung wurde im Hof neben
den Amtsräumen des Wesirs abgehalten. Zimmerleute hatten Holzsäulen errichtet
und Stoff darübergespannt, um die Prüflinge vor der Sonne zu schützen.
Hier genoß Ramses keinerlei Vorrechte. Weder sein
Vater noch seine Mutter hätten etwas für ihn tun können, denn das hätte
bedeutet, das Gesetz der Maat zu mißachten. Ameni hätte sich dieser Prüfung
über kurz oder lang unterzogen. Ramses verfügte weder über die Kenntnisse noch
das Talent des Freundes. Aber er würde für ihn kämpfen.
Auf einen Stock gestützt, hielt ein alter Schreiber
den fünfzig jungen Leuten, die die zwei angebotenen Posten eines königlichen
Schreibers zu erlangen hofften, eine Ansprache.
»Ihr habt studiert, um ein Amt zu erlangen, das es
euch gestatten soll, eine gewisse Macht auszuüben, aber wißt ihr, wie ihr euch
zu benehmen habt? Eure Kleidung sei rein, eure Sandale unbefleckt, eurer
Papyrusrolle gelte all eure Sorgfalt, und Müßiggang sei euch fern! Eure Hand
schreibe, ohne zu zögern, euer Mund spreche wahrhaftig, lasset nicht ab, weiter
und weiter zu studieren, gehorchet den Anweisungen eures Vorgesetzten und übt
euren Beruf gewissenhaft und zum Wohle anderer aus: dies sei euer Ideal! Erlegt
euch Disziplin auf; ein Affe begreift, was man ihm sagt, ein Löwe läßt sich
zähmen, aber ein zerstreuter Schreiber ist das Dümmste auf der Welt. Gegen
Müßiggang gibt es nur ein Mittel: den Stock! Er öffnet das Ohr, das auf dem
Rücken sitzt, und rückt die Gedanken zurecht. Und nun an die Arbeit.«
Die Kandidaten bekamen ein Täfelchen aus
Sykomorenholz, das mit einer dünnen Gipsschicht überzogen war und in der Mitte
eine Aushöhlung hatte, in der die Schreibbinsen steckten. Jeder träufelte etwas
Wasser auf die roten und schwarzen Tintensteine und erflehte durch Ausschütten
von ein paar Tropfen die Gunst Imhoteps, des Schutzherrn der Schreiber.
Stunde um Stunde galt es, Inschriften nachzuschreiben,
Fragen zu Grammatik und Wortschatz zu beantworten, Aufgaben aus Mathematik und
Geometrie zu lösen, einen Brief zu entwerfen, Sprüche der Weisen zu kopieren.
Etliche Kandidaten gaben auf, andere vermochten sich nicht weiter zu
konzentrieren. Die letzte Prüfungsaufgabe war ein Rätsel.
Ramses stockte: wie konnte der
Weitere Kostenlose Bücher