RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
fuhr gen Norden. Von Memphis aus war es der Strömung
des Nils gefolgt, bevor es in einen der Seitenarme einbog, die tief hinein ins
Delta führten.
Ramses war wie geblendet.
In dieser Landschaft, über die der Gott Horus
herrschte, gab es keine Wüste, und das Wasser war allmächtig. Im Tal des Seth
hingegen mußte der Fluß sich zwischen zwei Ufern, die ständig gegen die Trockenheit
ankämpften, seinen Weg bahnen. Der ungezähmte Teil des Deltas glich einem
riesigen Sumpfgebiet, wo Tausende von Vögeln und Fischen lebten und dichte
Papyruswälder standen. Nirgendwo eine Stadt, nicht einmal eine Ansiedlung, nur
ein paar Fischerhütten auf umspülten Kuppen. Auch das Licht verharrte nicht
bewegungslos wie im Tal. Der Wind, der vom Meer kam, ließ die Schilfrohre
tanzen.
Schwarze Flamingos, Enten, Reiher und allerlei
Pelikane teilten sich dieses riesige Reich mit all den Wasserarmen. Hier
verschlang eine Schleichkatze die Eier aus einem Eisvogelnest, dort wand sich
eine Schlange durch ein Dickicht, über dem bunte Schmetterlinge flatterten.
Dieses Reich hatte der Mensch noch nicht erobert.
Das Schiff fuhr nun langsamer, der Kapitän hatte Erfahrung
mit den Launen dieses Labyrinths und ließ Vorsicht walten. Etwa zwanzig
erprobte Seeleute waren an Bord, und vorn im Bug stand der Herr dieses Landes.
Sein Sohn beobachtete ihn unbemerkt, fasziniert von der Erhabenheit des Vaters.
Sethos verkörperte Ägypten, er war Ägypten, Erbe einer Ahnenreihe, die über
Jahrtausende das Wissen um die göttliche Größe und die menschliche Nichtigkeit
hochgehalten hatte. In den Augen seines Volkes war der Pharao seit ehedem ein
geheimnisvolles Wesen, dessen eigentliche Heimstatt der bestirnte Himmel war.
Seine Anwesenheit auf Erden bezeugte die Verbindung mit dem Jenseits, des
Pharaos Blick öffnete seinem Volk die Tore dorthin. Ohne ihn hätte die Barbarei
schnell beide Ufer erobert, mit ihm versprach die Zukunft Ewigkeit zu werden.
Obgleich er das Ziel nicht kannte, schrieb Ramses auch
den Bericht über diese Expedition. Weder sein Vater noch die Mannschaft waren
auskunftsbereit gewesen. Der Prinz verspürte eine innere Unruhe, als drohte dem
Schiff Gefahr. Jeden Augenblick konnte ein Ungeheuer auftauchen und die Barke
verschlingen.
Wie schon bei der ersten Reise hatte Sethos auch
diesmal seinem Sohn nicht die Zeit gelassen, Iset und Ameni zu verständigen.
Den Zorn der Geliebten und die Unruhe des Freundes konnte Ramses sich gut
vorstellen, aber weder Liebe noch Freundschaft hätte ihn davon abhalten können,
seinem Vater dorthin zu folgen, wohin er ihn mitzunehmen bereit war.
Eine Fahrrinne zeichnete sich ab, nun kam man leichter
voran, und schon bald legte das Schiff an einem grasbewachsenen Inselchen an,
auf dem ein merkwürdiger hölzerner Turm stand. Mit Hilfe einer Strickleiter
ging der König von Bord, Ramses tat es ihm nach. Der Pharao und sein Sohn
erklommen die Spitze des von einer Einfriedung aus Holz und Buschwerk getarnten
Turmes. Von dort oben sah man nur den Himmel.
Sethos war so in Gedanken vertieft, daß Ramses ihm
keine Frage zu stellen wagte.
Plötzlich belebte sich der Blick des Pharaos.
»Schau, Ramses, sieh genau hin!«
Hoch oben am Himmel, wo der Azur die Sonne zu berühren
schien, flog ein Schwarm Zugvögel gen Süden, es sah aus wie ein großes V.
»Sie kommen von jenseits aller bekannten Welten«,
erklärte Sethos, »aus grenzenlosen Weiten, wo die Götter unermüdlich Leben
schaffen. Verweilen sie im Ozean der Tatkraft, haben sie die Form von Vögeln
mit Menschenkopf und nähren sich vom Licht. Überfliegen sie die Grenzen der
Erde, nehmen sie die Gestalt einer Schwalbe oder eines anderen Zugvogels an.
Vergiß nie, sie zu betrachten. Sie sind unsere zu neuem Leben erweckten Ahnen,
die sich bei der Sonne für uns verwenden, damit ihr Feuer uns nicht zerstört.
Sie sind es, die dem Pharao seine Gedanken eingeben und ihm einen Weg weisen,
den Menschenaugen nicht sehen.«
Als die Nacht hereingebrochen war und die Sterne
funkelten, erklärte Sethos seinem Sohn den Himmel. Er lehrte ihn die Namen der
Sternbilder, die Bewegung der unermüdlichen Planeten Sonne und Mond und die
Bedeutung der Dekansterne. Mußte der Pharao seine Macht nicht bis zu den
Grenzen der Welt ausdehnen, so daß sein Arm von keinem Land zurückgestoßen
wurde?
Ramses lauschte mit offenen Ohren und geöffnetem
Herzen. Er nahm diese Nahrung in sich auf und ließ nichts unbeachtet. Zu früh
kam der Morgen.
Das Pflanzendickicht
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