RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Nachzügler
befestigten noch hastig die Deiche gegen den heftigen Wind, der den Zorn der
rachegierigen Löwin bezeugte. Was wäre ohne das Einschreiten des Pharaos
übriggeblieben von dem Land?
Der Oberste Palastwächter von Memphis hätte sich auch
lieber in seine Amtsräume zurückgezogen und das Fest des ersten Tags des neuen
Jahres abgewartet, wenn in die von Furcht befreiten Herzen jubelnde Freude
einzog. Aber Königin Tuja hatte ihn rufen lassen, und nun rätselte er über den
Anlaß für diese Vorladung. Im allgemeinen hatte er keinen Zugang zur großen
königlichen Gemahlin, deren Kammerdiener ihm die Befehle überbrachte. Wie
erklärte sich also dieses ungewöhnliche Vorgehen?
Die hohe Dame flößte ihm, wie vielen Würdenträgern,
große Furcht ein. Der ägyptische Hof mußte Vorbild sein, daran hielt sie fest
und duldete keinerlei Nachlässigkeit. Ihr zu mißfallen war eine Verfehlung, die
nicht mehr gutzumachen war.
Bisher hatte der Oberste Palastwächter sich nicht
sonderlich plagen müssen, war weder gelobt noch getadelt worden und ohne
Mißhelligkeiten vorangekommen. Er verstand es, nicht aufzufallen und sich an
dem zugewiesenen Platz zu behaupten. Seit er dieses Amt übernommen hatte, war
die Ruhe des Palastes durch keinen Zwischenfall gestört worden.
Kein Zwischenfall, abgesehen von dieser Vorladung.
Sollte ihn einer seiner Untergebenen, der auf seinen
Posten lauerte, verleumdet haben? Ein Günstling der königlichen Familie ihn
vernichten wollen? Was könnte man ihm vorwerfen? Die Fragen stürmten auf ihn
ein und hämmerten in seinem Kopf. Der Oberste Palastwächter zitterte am ganzen
Leib, und seine Augen zwinkerten nervös, als er in den Audienzsaal vorgelassen
wurde, wo sich die Königin befand. Obwohl er größer war als sie, erschien sie
ihm gewaltig.
Er warf sich zu Boden.
»Majestät, die Götter seien dir gewogen und…«
»Genug der hohlen Worte; setz dich.«
Die große königliche Gemahlin wies ihm einen bequemen
Stuhl an. Er wagte nicht, zu ihr aufzublicken. Wie konnte eine so zierliche
Frau so viel Macht ausstrahlen?
»Du weißt vermutlich, daß ein Stallknecht einen Anschlag
auf Ramses verübt hat.«
»Ja, Majestät.«
»Du weißt ebenfalls, daß nach dem Wagenlenker gesucht
wird, der Ramses zur Jagd begleitet hat und vielleicht der Anstifter dieses
Verbrechens ist.«
»Ja, Majestät.«
»Gewiß bist du im Bilde über den Stand der Nachforschungen.«
»Sie könnten sich als langwierig und schwierig
erweisen.«
»Sie könnten? Eine merkwürdige Ausdrucksweise!
Solltest du fürchten, die Wahrheit herauszufinden?«
Wie von einer Wespe gestochen, sprang der Mann auf.
»Natürlich nicht! Ich…«
»Setz dich und hör mir aufmerksam zu. Ich habe den
Eindruck, als solle dieser Vorfall totgeschwiegen und heruntergespielt werden.
Ramses hat überlebt, sein Angreifer ist tot, und der Auftraggeber ist
verschwunden. Warum also noch weitersuchen? Trotz der Beharrlichkeit meines
Sohnes wird nichts Neues zutage gefördert. Leben wir hier in einem barbarischen
Königreich, wo der Begriff Gerechtigkeit jeden Sinn verloren hat?«
»Majestät kennt doch die Einsatzbereitschaft der
Wachen, ihr…«
»Ich stelle ihr Versagen fest und hoffe, daß dies sich
ändern wird. Sollte jemand die Nachforschungen zu verhindern suchen, werde ich
ihm auf die Schliche kommen. Mit anderen Worten, du wirst mir sagen, wer es
ist.«
»Ich? Aber…«
»Es gibt keine bessere Stellung als die deine, um
einer Sache schnell und taktvoll auf den Grund zu gehen. Finde den Wagenlenker,
der Ramses in die Falle gelockt hat, und bring ihn vor Gericht.«
»Majestät, ich…«
»Irgendwelche Einwände?«
Der Oberste Palastwächter war am Boden zerstört und
fühlte sich durchbohrt von einem der Pfeile Sachmets. Wie sollte er die Königin
zufriedenstellen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen und das Mißfallen eines
anderen zu erregen? Und wenn der für den Anschlag tatsächlich Verantwortliche
eine hochgestellte Persönlichkeit wäre? Und vielleicht noch unbarmherziger als
Tuja…? Sie aber duldete keinen Mißerfolg.
»Nein, natürlich nicht, aber leicht wird es nicht
sein.«
»Das sagtest du bereits, ich wende mich ja an dich,
weil es keine der üblichen Aufgaben ist. Und noch eine zweite Aufgabe will ich
dir übertragen, die weitaus einfacher ist.«
Tuja sprach von den minderwertigen Tintensteinen und
der zwielichtigen Werkstatt, wo sie hergestellt wurden. Dank der Hinweise von
Ramses vermochte sie ihm
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