RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Nilschwellenfest, mit dem das neue
Jahr eingeleitet wurde, verlor Iset die Geduld und begab sich trotz des Verbots
ihres Geliebten zu ihm auf die Terrasse, wo er in Gesellschaft des Hundes
seinen Gedanken nachhing. Wächter bleckte die Zähne, knurrte und stellte die
Ohren auf.
»Ruf dieses Tier zur Ruhe!«
Der eisige Blick von Ramses gebot der jungen Frau
Einhalt.
»Was ist los? Sag es doch, ich flehe dich an!«
Ungerührt wandte Ramses sich ab.
»Du hast kein Recht, mich so zu behandeln. Ich habe
Angst um dich gehabt, ich hebe dich, und du siehst mich nicht einmal an!«
»Laß mich allein.«
Flehentlich kniete sie nieder.
»Sag doch endlich etwas!«
Wächter schien nicht mehr ganz so feindselig.
»Was erwartest du von mir?«
»Schau den Nil an, Iset.«
»Darf ich mich neben dich setzen?«
Er antwortete nicht, sie wagte sich zu ihm, der Hund
rührte sich nicht.
»Der Stern Sothis wird bald aus der Finsternis
hervortreten«, erklärte Ramses, »morgen wird er mit der Sonne im Osten aufgehen
und den Beginn der Überschwemmungen ankündigen.«
»Ist das nicht jedes Jahr so?«
»Verstehst du nicht, daß dieses Jahr mit keinem
anderen vergleichbar ist?«
Der feierliche Ton beeindruckte Iset, die Schöne. Sie
hatte nicht die Kraft, zu lügen.
»Nein, das begreife ich nicht.«
»Schau den Nil an.«
Zärtlich umfaßte sie seinen Arm.
»Sei doch nicht so rätselhaft. Ich bin doch nicht
deine Feindin. Was ist dir im Delta zugestoßen?«
»Mein Vater hat mich mir selbst gegenübergestellt.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich habe nicht das Recht zu fliehen, mich zu
verbergen wäre nutzlos.«
»Ich glaube an dich, Ramses, was immer dir bestimmt
sein mag.«
Zärtlich strich er ihr übers Haar. Sprachlos blickte
sie ihn an. Was er dort in den Gefilden des Nordens erlebt hatte, hatte ihn
verändert.
Der Jüngling war zum Mann geworden.
Zu einem Mann von herrlicher Schönheit, zu einem Mann,
in den sie unsterblich verliebt war.
Die Kundigen hatten sich nicht geirrt, als sie den Tag
nannten, da die Flut die Ufer bei Memphis erobern würde.
Sogleich wurden Vorbereitungen für das Fest getroffen.
Überall rief man sich zu, Göttin Isis habe nach langer Suche Osiris gefunden
und wiedererweckt. Gleich nach Tagesanbruch wurde der Deich vor dem Hauptkanal,
der die Stadt mit Wasser versorgte, geöffnet, und schon stürmte die schwellende
Flut herein. Damit sie keine Zerstörungen anrichtete, wurden Tausende von
kleinen Statuen ins Wasser geworfen. Sie stellten Hapi, den »Bringer von
Nahrung«, dar, einen Mann mit hängenden Brüsten und einem Papyrusgestrüpp auf
dem Kopf, der mit Speisen überhäufte Platten vor sich hertrug. Jede Familie
würde sich einen Tonkrug voll Schwellwasser holen und ihn sorgsam aufbewahren,
denn er versprach Wohlstand.
Im Palast herrschte Geschäftigkeit. In weniger als
einer Stunde mußte die Prozession beginnen, bei der der Pharao an der Spitze
des Zuges zum Nil hinunterschreiten und den Opferritus zelebrieren würde. Jeder
fragte sich, welcher Platz in der Rangfolge ihm wohl zugewiesen würde, denn das
wußte das Volk zu deuten.
Chenar drehte sich im Kreis. Zum zehnten mal befragte
er den Hofkämmerer.
»Hat mein Vater meinen Platz jetzt bestätigt?«
»Noch nicht.«
»Das ist ja zum Verrücktwerden! Frag bei dem
Zeremonienmeister nach!«
»Der König wird die Rangfolge bestimmen, wenn er die
Prozession anführt.«
»Die kennt inzwischen doch jeder!«
»Verzeih, mehr weiß auch ich nicht.«
Nervös zupfte Chenar an den Falten seines langen
Leinengewandes und nestelte an der dreireihigen Halskette aus Karneolperlen. Er
hätte es gern noch prächtiger gehabt, aber er durfte ja seinen Vater nicht
ausstechen. So bestätigten sich also die Gerüchte. Sethos beabsichtigte
tatsächlich, in Absprache mit der Königin das Protokoll in einigen Punkten zu
ändern. Aber warum war er nicht eingeweiht? Wenn das königliche Paar ihn derart
vor den Kopf stieß, zeichnete sich Ungnade am Horizont ab. Und wer konnte das
wohl veranlaßt haben, wenn nicht der ehrgeizige Ramses?
Seinen kleinen Bruder zu unterschätzen war vermutlich
unklug gewesen. Diese Schlange intrigierte unermüdlich gegen ihn, hinter seinem
Rücken, und glaubte jetzt sicher, ihm den entscheidenden Hieb versetzt zu
haben, indem er ihn verleumdete. Tuja hatte sich diese Lügen angehört und ihren
Gatten beeinflußt.
Ja, das war Ramses’ Plan: bei einer großen öffentlichen
Zeremonie den ersten Platz hinter dem
Weitere Kostenlose Bücher