RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
königlichen Paar einzunehmen und damit zu
zeigen, daß er den älteren Bruder ausgestochen hatte.
Chenar bat um eine Audienz bei seiner Mutter.
Zwei Priesterinnen hatten die große königliche
Gemahlin soeben fertig angekleidet. Der Kopfputz, eine Krone mit zwei langen
Federn, machte deutlich, daß sie den das ganze Land befruchtenden Lebensodem
verkörperte. Durch ihre Anwesenheit würde die Trockenheit besiegt und die
Fruchtbarkeit zurückkehren.
Chenar verneigte sich vor seiner Mutter.
»Warum bist du so unentschlossen, was mich betrifft?«
»Worüber beklagst du dich?«
»Sollte ich meinem Vater nicht zur Hand gehen beim
Opferritual am Nil?«
»Das wird er entscheiden.«
»Kennst du seine Entscheidung nicht?«
»Solltest du kein Vertrauen mehr haben zu deinem
Vater? Für gewöhnlich bist du doch der erste, der die Weisheit seiner
Entscheidungen rühmt.«
Chenar verstummte, er bedauerte sein Vorgehen. Wie er
hier vor seiner Mutter stand, fühlte er sich unbehaglich. Ohne ihn geradewegs
anzugreifen, bohrte sie mit erschreckender Zielsicherheit ein Loch in seinen
Panzer und traf die empfindliche Stelle.
»Ich heiße sie auch weiterhin gut, das versichere
ich.«
»Wenn dem so ist, warum bist du dann besorgt? Sethos
wird tun, was für Ägypten das Beste ist. Kommt es nicht allein darauf an?«
Um Kopf und Hände zu beschäftigen, schrieb Ramses
einen Lehrsatz der Ptah-hotep auf Papyrus: »Wenn du eine Leitfigur bist, die
für eine große Zahl Menschen Regeln aufzustellen hat, dann suche nach jeder
Gelegenheit, dich zu beweisen, damit deine Art zu regieren makellos sei.« Der
Prinz prägte sich diesen Gedanken ein, als richte sich dieser vor Jahrhunderten
geschriebene Satz unmittelbar an ihn.
In knapp einer Stunde würde ein Zeremonienmeister ihn
abholen und ihm seinen Platz in der Prozession zuweisen. Wenn sein Gefühl ihn
nicht trog, würde es der Platz sein, der üblicherweise Chenar vorbehalten war.
Die Vernunft gebot, daß Sethos die geltende Ordnung nicht umstieß, aber warum dann
dieses geheimnisvolle Getue um die Rangfolge, die der Menschenmenge an den
Ufern des Nils kundgetan werden würde? Der Pharao bereitete einen Staatsstreich
vor. Und dieser Staatsstreich war der Platzwechsel zwischen Chenar und Ramses.
Kein Gesetz zwang den König, seinen älteren Sohn zum
Nachfolger zu bestimmen. Er mußte ihn nicht einmal unter die Würdenträger
wählen. Etliche Pharaonen und Königinnen haue es schon gegeben, die nicht
höchsten Kreisen entstammten. Tuja selbst kam aus der Provinz und war unvermögend
gewesen.
Ramses führte sich noch einmal vor Augen, was er in
letzter Zeit mit seinem Vater erlebt hatte. Nichts davon war aus dem Zufall
geboren. Schlagartig, schonungslos hatte Sethos ihn zur Vernunft gebracht, ihn
seiner Illusionen beraubt, um seine wahre Natur hervorzukehren. Wie ein Löwe
geboren wurde, um Löwe zu sein, fühlte Ramses sich geboren, um zu herrschen.
Ganz anders, als er geglaubt hatte, verfügte er über
keinerlei Freiheit, das Schicksal zeichnete den Weg vor, und Sethos wachte
darüber, daß er keinen Fußbreit davon abwich.
Zahlreiche Schaulustige drängten sich am Rande der
Straße, die vom Palast zum Fluß hinunterführte. Dies war eine der seltenen
Gelegenheiten, da man den Pharao, seine Gemahlin, ihre Kinder und die höchsten
Würdenträger zu Gesicht bekam, weil der Beginn des neuen Jahres und die
Wiederkehr der Flut schließlich für alle ein Fest war, das gebührend gefeiert
werden mußte.
Vom Fenster seiner Gemächer aus blickte Chenar auf die
Neugierigen, die in wenigen Minuten seiner Demütigung beiwohnen würden. Sethos
hatte ihm nicht einmal die Huld gewährt, sich zu verteidigen und darzulegen,
warum Ramses unfähig war, König zu werden. Da er die Zusammenhänge nicht
verstand, verfuhr der König nach einer Entscheidung, die mehr als zweifelhaft
und ungerecht war.
Etliche unter den Höflingen würden damit nicht
einverstanden sein. Chenar brauchte sie nur um sich zu scharen und den
Widerstand zu schüren, dann würde Sethos es schon zu spüren bekommen.
Zahlreiche Würdenträger vertrauten Chenar. Ramses brauchte nur ein paar
Ungeschicklichkeiten zu begehen, und schon wäre sein Bruder wieder der
Überlegene. Und wenn er sie nicht aus eigenem Antrieb beging, würde Chenar eben
ein paar Fallstricke legen, in die er unweigerlich hineintappen mußte.
Der Oberste Zeremonienmeister bat den älteren Sohn des
Königs, ihm zu folgen, die Prozession werde sich jeden
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