Ramses 4 - Die Herrin von Abu Simbel
drang genau in der richtigen Tiefe ins Erdreich ein, ohne die Schollen zu beschädigen.
Die Bediensteten des Landgutes verhehlten ihre Freude nicht.
Den König und die Königin aus so unmittelbarer Nähe sehen zu dürfen war ein wahres Geschenk des Himmels, der ihnen im bevorstehenden Jahr gewiß tausendfaches Glück bescheren würde: eine überreiche Ernte, Obstgärten voll der prächtigsten Früchte, und in den Viehherden würden Junge in großer Zahl zur Welt kommen.
Nefertari fühlte hingegen, daß die Festlichkeiten dieses schönen Tages Ramses nicht berührten. Deshalb nutzte sie einen Augenblick der Ruhe, um ihn nach dem Grund zu fragen.
«Dir schnürt Angst das Herz zusammen… Hat das etwas mit Moses zu tun?»
«Sein Schicksal bereitet mir Sorge, das stimmt.»
«Ist Abner schon gefunden worden?»
«Nein, noch nicht. Falls er nicht vor Gericht erscheint, wird der Wesir dem Freispruch nicht stattgeben.»
«Serramanna wird dich nicht enttäuschen. Aber ich spüre, daß dich noch etwas anderes quält.»
«Das Pharaonentum gebietet mir, Ägypten vor Feinden im Inneren wie vor denen von außen zu schützen, und ich befürchte, versagt zu haben.»
«Da du die Hethiter weit zurückgedrängt hast, kann sich der Widersacher, der dich ängstigt, nur in unserem Land befinden.»
«Wir werden einen Krieg gegen die Söhne der Finsternis führen müssen, die ihr wahres Gesicht verbergen und sich in falschem Licht zeigen.»
«Welch sonderbare Worte! Dennoch überraschen sie mich nicht. Gestern abend, während der Riten im Tempel der Sachmet, funkelten die Augen des granitenen Standbildes mit besorgniserregendem Glanz. Wir kennen diesen Blick gut: Er verkündet Unheil. Ich habe sogleich die Beschwörungsformeln gesprochen, aber wird sich der Frieden, der darauf im Heiligtum wieder einkehrte, auch in der Welt draußen ausbreiten?»
«Der Geist von Achet-Aton erregt aufs neue die Gemüter, Nefertari.»
«Hat Echnaton seinem verderblichen Unterfangen nicht selbst Grenzen in Zeit und Raum gesetzt?»
« Gewiß, aber er hat Kräfte ausgelöst, deren er nicht mehr Herr wird. Und Ofir, ein libyscher Magier im Dienste der Hethiter, hat die Dämonen geweckt, die in der aufgegebenen Hauptstadt schlummerten.»
Nefertari schwieg eine Weile mit geschlossenen Augen. Ihre Gedanken befreiten sich von den Fesseln des Vergänglichen und strebten dem Unsichtbaren zu, um die in den verschlungenen Pfaden der Zukunft verborgene Wahrheit zu ergründen. Die Rituale, die sie zu vollziehen pflegte, hatten in der Königin eine Fähigkeit zur Seherin entwickelt und ihr die Gabe verliehen, unmittelbar mit den Mächten in Verbindung zu treten, die jeden Augenblick aufs neue die Welt erschufen.
Ihre Vorahnungen hoben zuweilen den Schleier, der Künftiges verhüllte.
Nicht ohne Furcht wartete Ramses auf den Spruch der Großen Königsgemahlin.
«Die Auseinandersetzung wird grauenerregend», sagte sie, als sie die Augen wieder aufschlug. «Die Armeen, die Ofir aufgestellt hat, stehen in ihrer Gewalttätigkeit denen der Hethiter in nichts nach.»
«Da du meine Ängste bestätigst, müssen wir so schnell wie möglich handeln. Bieten wir alle Kräfte der wichtigsten Tempel des Königreichs auf, überziehen wir das Land mit einem schützenden Netz, dessen Maschen die Götter und Göttinnen knüpfen werden. Dazu brauche ich deine Hilfe.»
Nefertari umarmte Ramses mit unendlicher Zärtlichkeit.
«Als ob du mich darum erst bitten müßtest!»
«Wir werden eine lange Reise antreten und unzähligen Gefahren trotzen.»
«Hätte unsere Liebe denn einen Sinn, wenn wir sie nicht Ägypten zum Geschenk machten? Ihm verdanken wir unser Leben, und ihm weihen wir es.»
Mit Schilfrohr bekränzt, mit nackten Brüsten und einem Schurz aus Binsen um die Hüften tanzten die jungen Bauernmädchen zu Ehren der Fruchtbarkeit der Erde. Dabei warfen sie sich kleine Stoffbälle zu, um böse Geister abzuwehren. Dank der Gewandtheit dieser Mädchen vermochten die schwerfälligen, ungeschickten und unförmigen Dämonen nicht in das Fruchtland einzudringen.
«Hätten wir nur ihre Leichtigkeit», wünschte Nefertari.
«Auch dich bedrückt insgeheim etwas.»
«Kha bereitet mir Kummer.»
«Hat er sich ein Vergehen zuschulden kommen lassen?»
«Nein, es ist wegen des Schreibrohrs, das man ihm gestohlen hat. Erinnerst du dich noch daran, wie mein Lieblingsschal verschwunden ist? Ohne Zweifel hatte dieser Ofir ihn für seine Schwarze Magie benutzt, um mir die
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