Ramses 4 - Die Herrin von Abu Simbel
andere Strafe zu entscheiden: Du magst samt deinen Beamten bis zur Vollendung des Tempels als Arbeiter in der Baustätte dienen.»
Alle Priesterinnen und Priester erfüllten ihre rituellen Pflichten, so daß der Tempel des Osiris dem himmlischen Horizont glich und jedes Antlitz erhellte. Ramses hatte ihm eine goldene Statue mit den Gesichtszügen seines Vaters zum Geschenk gemacht und gemeinsam mit Nefertari in einer feierlichen Opferzeremonie der Maat gehuldigt. Die mit Elektron überzogenen Türen aus Zedernholz, der mit Silber belegte Fußboden, die Türschwellen aus Granit und die farbenprächtigen Reliefs machten den Tempel zu einer Stätte, die nicht mehr von dieser Welt war und in der die Götter mit Freuden wohnten. Die ihnen dargebrachten Speisen türmten sich zwischen Gefäßen mit Duftölen und Blumen auf den Altären.
Das Schatzhaus wurde mit Gold, Silber, königlichem Leinen, Öl, Weihrauch, Wein, Honig, Myrrhe und Salben gefüllt. In den Ställen standen fette Ochsen neben Kühen und kräftigen Kälbern, und in den Speichern häufte sich Getreide erster Güte. Wie eine Inschrift aus Hieroglyphen es verkündete, mehrte der Pharao zu Ehren des Gottes alle Gaben.
In einer Rede vor den im Audienzsaal des Palastes von Abydos versammelten Würdenträgern der Provinz verfügte Ramses, daß Schiffe, Ländereien, Viehherden, Esel und alle übrigen dem Tempel gehörenden Güter ihm unter keinerlei Vorwand entzogen werden dürften. Auch Feldhüter, Vogelfänger, Fischer, Acker- und Weinbauern, Bienenzüchter, Gärtner, Jäger und alle sonstigen Bediensteten, die dazu beitrugen, dem Tempel des Osiris zu Wohlstand zu verhelfen, durften nicht zu irgendwelchen Aufgaben an anderem Ort verpflichtet werden.
Wer diese Anweisungen des Königs mißachtete, sollte an seinem Leib bestraft, aller Ämter enthoben und zu mehreren Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden.
Von Ramses zur Eile angetrieben, legte jeder großen Eifer an den Tag, und der Ausbau des Heiligtums ging rasch voran. Die Riten verliehen den Standbildern der Götter in ihren Kapellen neuen Glanz, das Übel war gebannt, der Tempel stand wieder im Einklang mit der Maat.
Nefertari erlebte glückliche Tage. Dieser Aufenthalt in Abydos bot ihr die unerwartete Gelegenheit, den Traum ihrer Jugendtage zu verwirklichen, den Göttern nahe zu sein, angesichts ihrer Schönheit innere Einkehr zu halten und beim Vollzug der Riten ihre Geheimnisse zu ergründen.
Als der Augenblick nahte, da es galt, die Türen des Naos für die Nacht zu schließen, befand sich Ramses nicht in ihrer Nähe. Die Königin machte sich auf die Suche nach ihm und entdeckte ihn in einem Säulengang, in dem er die lange Reihe der Pharaonen betrachtete, die ihm seit der ersten Dynastie vorausgegangen waren. Durch die Macht der Hieroglyphen lebten ihre Namen für alle Zeit im Gedächtnis der Menschen fort, und dereinst würde der Name Ramses’ des Großen dem seines Vaters folgen.
«Wie gelingt es einem nur, sich ihrer würdig zu erweisen?»
fragte sich der König laut. «Versäumnisse im Amt, Feigheit, Lüge… Welcher Pharao wird je imstande sein, diese Übel aus den Herzen der Menschen zu vertreiben?»
«Keiner», antwortete Nefertari. «Aber sie alle haben diesen von vornherein verlorenen Kampf geführt und zuweilen kleine Siege errungen.»
«Wenn er selbst auf dem heiligen Boden von Abydos nicht geachtet wurde, ist es dann noch sinnvoll, einen Erlaß herauszugeben?»
«Du pflegst sonst nicht so mutlos zu sein.»
«Deshalb bin ich hierhergegangen, um von meinen Vorfahren Rat zu erbitten.»
«Sie konnten dir nur einen geben: dein Werk fortzuführen und Nutzen aus den dir auferlegten Prüfungen zu ziehen.»
«Wir fühlen uns in diesem Tempel so wohl. Hier herrscht der Frieden, den ich in der Welt außerhalb seiner Mauern nicht zu schaffen vermag.»
«Es ist meine Pflicht, dich dieser Versuchung zu entreißen, selbst wenn ich dabei meinen eigenen innigsten Wunsch verleugnen muß.»
Ramses schloß die Königin in die Arme.
«Ohne dich wären meine Taten nur lächerliche Gebärden. In zwei Wochen feiert Abydos die Mysterien des Osiris. Wir werden an ihnen teilnehmen, und ich möchte dir einen Vorschlag machen. Die Entscheidung liegt bei dir.»
Mit Stöcken bewaffnet und laut schreiend, stürzte sich eine Horde schreckenerregender Gestalten auf die Spitze des festlichen Zuges. In der Maske des Schakalgottes drängte der
«Öffner des Weges», der Oberpriester von Abydos, die
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