Ramses 4 - Die Herrin von Abu Simbel
aufgestauten Wut freien Lauf lassen können. War ihm nicht mit nur wenigen Männern und ein bißchen Erfindungsgabe ein Überraschungsangriff auf Ramses den Großen gelungen? War er nicht dem Triumph sehr nahe gekommen?
Wenn er beharrlich blieb, würde ihm das Schicksal letzten Endes hold sein.
Auf allen Schiffen der königlichen Flottille herrschte Schweigen. Aus Angst, die gramerfüllte Nachdenklichkeit der Königin zu stören, wagte niemand, ein Gespräch anzufangen.
Als der Abend nahte, stand sie immer noch reglos im Bug.
Auch Setaou sprach nicht, um ihr nicht die letzte Hoffnung zu nehmen, die sie noch hegte. Sobald die Sonne unterging, würde sie sich der grausamen Wirklichkeit stellen müssen.
«Ich wußte es», sagte sie plötzlich mit so sanfter Stimme, daß Setaou sich wunderte.
«Majestät…»
«Ramses ist da drüben, er steht auf dem Dach des weißen Palastes.»
«Majestät, die Nacht bricht herein und…»
«Sieh genau hin.»
Aufmerksam ließ Setaou seinen Blick über das Dach schweifen.
«Nein, das ist nur eine Sinnestäuschung.»
«Meine Augen sehen ihn, fahren wir näher hin.»
Er brachte nicht den Mut auf, sich ihrer Forderung zu widersetzen. Das königliche Schiff holte den Anker ein und steuerte die Sonnenstadt an, die schon bald in Finsternis versinken würde.
Von neuem blickte der Schlangenkundige zum Dach des weißen Palastes hinüber, in dem Echnaton und Nofretete gelebt hatten. Nun vermeinte auch er, einen Mann dort stehen zu sehen. Er rieb sich die Augen, kniff sie zusammen, die Erscheinung war nicht verschwunden.
«Ramses lebt», wiederholte Nefertari.
«Rudert schneller!» verlangte Setaou.
In den letzten Strahlen der sinkenden Sonne kam Ramses’
Gestalt näher, wurde größer und größer.
Setaou war immer noch wütend.
«Weshalb hat es der Herr der Beiden Länder nicht für nötig befunden, sich zu melden und uns zu Hilfe zu holen? Dabei hättest du dir doch nichts vergeben.»
«Ich hatte Wichtigeres zu tun», antwortete der König. «Lotos und ich waren unter Wasser geschwommen, aber sie verlor die Besinnung, und ich befürchtete schon, sie sei ertrunken. Wir erreichten das Ufer am nördlichen Ende der verlassenen Hauptstadt, und ich habe Lotos lange magnetisiert, bis sie wieder zu sich kam. Dann gingen wir in die Stadt hinein, und ich suchte den höchsten Punkt aus, damit ihr uns sehen konntet. Ich wußte, daß Nefertaris Gedanken uns Schritt um Schritt folgten und sie in die richtige Richtung blicken würde.»
Freudestrahlend brachte die Königin verstohlen ihre Rührung zum Ausdruck, indem sie sich an ihren Gemahl schmiegte.
«Und ich habe schon gemeint, das Ei der Welt sei nicht imstande gewesen, dich zu retten», murrte Setaou. «Wärst du wirklich verschwunden, hätte mein Ruf gelitten.»
«Wie geht es Lotos?» erkundigte sich Nefertari.
«Ich habe ihr einen beruhigenden Trank verabreicht. Nach einem langen Schlaf wird sie dieses Mißgeschick bald vergessen.»
Ein Mundschenk füllte Schalen mit kühlem Weißwein.
«Lange hätte es nicht mehr dauern dürfen», sagte Setaou.
«Ich habe mich schon gefragt, ob wir uns noch in einem gesitteten Land befinden.»
«Hast du während des Kampfes ihren Anführer beobachtet?», wollte Ramses von Setaou wissen.
«Mir erschienen sie alle gleich bösartig. Ich habe nicht einmal bemerkt, daß sie einen Anführer hatten.»
«Es war ein bärtiger Mann, überaus erregt, mit haßerfüllten Augen… Als sich unsere Blicke einmal kurz trafen, habe ich geglaubt, Chenar wiederzuerkennen.»
«Chenar ist auf dem Weg in die Oasen in der Wüste ums Leben gekommen. Sogar Skorpione verenden irgendwann.»
«Und falls er doch überlebt hat?»
«Dann wäre er gewiß vollauf damit beschäftigt, sich zu verbergen, und dächte nicht im Traum daran, einen Trupp von Söldnern auf dich zu hetzen.»
«Diese Falle war von langer Hand vorbereitet worden, und beinahe wäre sie auch zugeschnappt.»
«Vermag der Haß einen Menschen so zu zerfressen, daß sich ein hoher Würdenträger in einen Krieger verwandelt, zu allem bereit, um seinen eigenen Bruder zu töten und sogar Hand an den geheiligten Pharao zu legen?»
«Falls es Chenar ist, hat er dir selbst die Antwort auf deine Frage gegeben.»
Setaous Miene verdüsterte sich.
«Wenn dieses Ungeheuer wirklich noch leben sollte, dürfen wir nicht untätig bleiben. Der Wahn, der ihn beherrscht, gleicht dem der Dämonen in der Wüste.»
«Dieser Anschlag ist nicht zufällig hier
Weitere Kostenlose Bücher