Rangun
die Elenden krochen und sich bewegten. »Es sind so viele.«
»Es ist, als hätte sie ihr Leben zu einer Fackel gerollt und sie entzündet. Sie ist wie eine Heilige«, knurrte Harry Harley am Tag nach dem Pagodenbesuch zu. »Ich kann ihren Anblick kaum ertragen. Sie ist zu klug, zu intensiv, zu selbstzerstörerisch.« Er nahm seinen Drink und setzte sich. »Jetzt geht sie auf die Straße. Bleibt abzuwarten, ob sie das in den Himmel oder in die Hölle führt.«
Lysistrata wäre über Harrys dramatische Ausführungen vielleicht amüsiert gewesen, hätte sie nach dem Elend im Shwe Dagon noch eine Spur von Humor gehabt. Sie war nicht selbstzerstörerisch, nur gedankenverloren. Wenn die Einheimischen nicht ins Hospital kommen wollten, mußte sie zu ihnen gehen. Da die Ärzte beschäftigt waren, die Priester dem abgeneigt waren und das Pflegepersonal ohne zusätzliches Entgelt nicht bereit war, mehr Arbeit zu leisten, ruhte diese Verantwortung auf ihr. Und damit auch die Schwierigkeiten.
In einer Stadt, in der es an medizinischer Versorgung mangelte, mußte sie nach Patienten suchen. Die Inder waren von einer schamlosen, unverschleierten Frau abgestoßen, die in ihre Privatsphäre eindrang. Ein paar Wochen lang ersannen sie jede nur denkbare Entschuldigung, um zu verhindern, daß sie ihre Häuser betrat. Nur ihre Tätigkeit öffnete ihr manchmal Türen. Als festgestellt wurde, daß sie bei den Engländern in Ungnade gefallen war, blieben die Türen ganz verschlossen. Die Pathan waren durchweg feindselig. Die Chinesen stellten kühl fest, sie hätten ihre eigenen Ärzte. Nur die Birmanen hießen sie und den buddhistischen Gehilfen willkommen, der sie auf Dr. Herriotts Bitte manchmal in die übelsten Stadtteile begleitete.
Unglücklicherweise befolgten die Birmanen nur selten ihre ärztlichen Ratschläge; und wenn sie Medizin ausgab, achtete sie darauf, daß genug Alkohol darin enthalten war, um zum Einnehmen zu ermutigen, aber zu wenig, um den Patienten zu berauschen, wenn er sie auf einmal trank. Allmählich erzielte sie kleine Fortschritte. Mochten die erwachsenen Birmanen ihre Leiden gleichgültig hinnehmen, um ihre Kinder sorgten sie sich mehr. Manchmal konnte sie mit dem Eifer der Mütter rechnen, wenn auch nicht auf ihr Verständnis. Umgekehrt konnten die Eltern darauf bauen, daß sie anders als die Sayahs kostenlos arbeitete. Mit wachsender Patientenzahl stand der Gehilfe, der darauf hinwies, daß er in erster Linie Priester sei, weniger zur Verfügung. Immer häufiger ging sie allein, wenn sie zu einem Notfall gerufen wurde, ohne Dr. Herriott zu beunruhigen. Sie vermutete, daß Masjid ihr unauffällig folgte.
Lysistrata wälzte sich unruhig im Bett. Sie hörte das leise Rascheln wieder. Sie öffnete die Augen und schloß sie. Tick-tock, der Tuk-too mußte auf seiner nächtlichen Jagd sein. Oder Wili der Mungo, Masjids lebendiger neuer Beitrag zum Haushalt. Sie drehte sich um und preßte das Gesicht in die Kissen.
Claudius hüpfte unbehaglich auf seine Schaukel. Er spürte ein Zittern, kaum mehr als ein Vibrieren seiner Sinne. Es kam rhythmisch mit zunehmender Stärke wieder. Nervös begab sich der Vogel auf die eine Seite des Hängekäfigs, dann auf die andere.
Lysistrata seufzte. Es war lieb von Harry gewesen, Claudius zu kaufen. Warum er das getan hatte, war klar, aber sie hatte lachend zugestimmt, daß der Vogel für niemand von Nutzen sei. Im Augenblick jedoch brauchte sie Schlaf und Claudius offensichtlich nicht. Sie legte sich ein Kissen über den Kopf.
Auf ein Geräusch des Bettes hin hörte das Vibrieren sofort auf. Als es still wurde, begann es wieder. Der Vogel zwitscherte erschreckt, als sich ein Schatten wie eine dunkle Blume, wie ein Kelch aus der Dunkelheit aufrichtete. Das Mondlicht zeigte Augenschlitze wie die des Todes. Claudius schrie mehrmals erschreckt auf, beruhigte sich dann, da er durch das Schwanken der Kreatur verwirrt war. Er neigte den Kopf, hielt den Blick auf das schmale Auge des Mörders gerichtet. Der Vogel blinzelte. Der Kelch schwoll an und schlug zu. Hing stumm und schwankte geduldig... bis Klauen und Fänge zugleich in seinen Schwanz schlugen. Mit einem bösartigen Zischen ruckte es krampfartig hoch und fuhr dann herunter, um gegen den Angreifer zu kämpfen. Die Stange, die den Käfig hielt, und die Kobra fielen krachend zu Boden.
Lysistrata fuhr erschreckt hoch. »Wer ist da?!« Für einen Moment herrschte Schweigen, dann ein grauenhaftes Duett von Zischen und Knurren.
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