Rangun
einen Haufen faulendes Gemüse. Sie wich zurück und suchte unter seinen Eßutensilien nach etwas, das sie als Waffe benutzen könnte. Doch bevor sie überhaupt etwas erkennen konnte, stürzte er sich auf sie. Sie roch stinkenden Atem, als er an ihrem Kleid zerrte und hörte dann einen scharfen Schlag. Die Augen des Birmanen verdrehten sich, als sein Kopf ruckartig nach hinten kippte. Blut schoß aus den Öffnungen seines Schädels. Er war tot, bevor er aufs Deck schlug. Entsetzen stieg in ihr auf. Dann sah sie Harleys ärgerliches, angespanntes Gesicht da, wo das des Verbrechers gewesen war.
»Schreien Sie nicht, verdammt! Sie haben schon genug Ärger gemacht!« Er zerrte sie vom Boot, dann über mehrere Kais bis zum Liegeplatz der Rani. Er stieß sie an Bord, dann in die Kabine. »Was machen Sie eigentlich nachts allein am Hafen, verflucht?«
»Ich habe ein Baby...«
»Auf Lop Ears Dschunke!« Seine Lippen waren vor Wut weiß.
»Was geht Sie das an?« schrie sie fast hysterisch. »Woher wußten Sie eigentlich, daß ich dort war?« Sie setzte sich abrupt auf die Pritsche, als ihre Beine zu zittern begannen. »Sie haben ihn getötet... wie?«
»Unwichtig«, schnappte er. »Hätte Kanaka nicht gesehen, wie Sie an Bord von Lop Ears Rattenfalle gingen, lägen Sie jetzt wahrscheinlich unter dem Freund des Hafens«, er warf einen sardonischen Blick auf ihr zerrissenes Kleid, »und hätten wenig freundliche Erinnerungen an Birma.« Er begann ruhelos in der kleinen Kabine auf und ab zu gehen und drehte sich ihr dann wieder mit starrem Gesicht zu. »Lop Ear schnitzt ausgezeichnet Teak... und andere Dinge. Ihre eigene Mutter würde Sie nicht wiedererkennen.« Er packte ihre Schultern. »Verstehen Sie, was ich sage? Verschwinden Sie von der Straße! Gehen Sie nach Hause und kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten! Rangun ist voller Leute wie Lop Ear, und die haben nicht alle geschlitzte Nasen und kauen Betel. Ich könnte Ihnen Dinge über Bettenheim erzählen ...« Er brach ab, ließ sie los und nahm eine Brandyflasche. »Jede Woche verschwinden hübsche Frauen in Rangun, entweder durch Leute wie Lop Ear oder durch Sklavenhändler... O ja, das gibt es.« Er schenkte zwei Gläser ein, reichte ihr eines, lehnte sich an seinen Schreibtisch und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »In jüngster Zeit hat das zugenommen. Einige einflußreiche Männer Ranguns stecken in dem Geschäft, Männer, denen Sie Unbehagen bereiten. Ihr messianischer Eifer«, die Formulierung war ein Hohn, »Ihre abendlichen Hausbesuche bereiten ihnen Probleme.«
Lysistrata rührte den Brandy nicht an. Sie wußte, daß ihre fast unnatürliche Gelassenheit auf den Schock zurückzuführen war, aber ihr Verstand war völlig klar, erfüllt von Traurigkeit und der Erkenntnis des Unausweichlichen. »Harley«, sagte sie ruhig, »Sie sagten einmal, daß niemand, der den Krieg zwischen den Staaten miterlebt hat, so naiv sein könne wie ich, und vielleicht haben Sie recht. Wir haben nie über das gesprochen, was ich glaube. Mein ältester Bruder starb für seine Überzeugung, daß ein Mensch nicht einen anderen besitzen dürfe. Der mittlere, Jason, starb, weil er es für falsch hielt, daß ein Mensch einem anderen seine Denkweise diktieren dürfe. Meine Mutter und mein jüngster Bruder starben, weil dieser Konflikt sie durch Sorge und Unterernährung brach. Mein Vater mußte deshalb seine Stellung aufgeben und ich verlor... vielleicht verlor ich meine Fraulichkeit.
Alle in der Familie waren gegen die Sklaverei. Und wir, die wir überlebten, freuten uns, als sie frei waren. Dann vergaßen wir sie. Nach dem Krieg glaubten wir, daß die Befreiten die gleiche Chance wie andere hätten, ein glückliches und wohlhabendes Leben zu führen. Aber so war es nicht.« Sie belastete abwesend das Glas. »Es ist leicht, einen Menschen zu vergessen, der hinter einer Mauer eingesperrt ist. Als ich nach Rangun kam, haben Sie mich über diese Mauer schauen lassen. Nur durch Mauern kann man sich sicher und überlegen fühlen. Man kann auf die Errungenschaften eines anderen Menschen bauen, ohne sehen zu müssen, wie sich der Schutt seines Lebens stapelt oder ohne seinen eigenen Tod zu sehen, wenn man nie nach unten schaut.« Sie lächelte schwach. »Ich rede zu viel. Ich glaube, ich zittere noch immer.« Ihre Blicke begegneten sich, und sie war überrascht, ein Flackern nackten Schmerzes in dem seinen zu sehen, aber auch etwas weniger Deutliches - eine Traurigkeit, ein
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