Rangun
ist.«
»Darum geht es, Harry«, meinte Harley.
»Sie meinen«, Harry drehte sich im Sattel um, »Sie halten nicht viel von ihren Reformen, was? Das überrascht mich etwas.«
»Was ich davon halte, ist unwichtig.« Harleys Stimme wurde härter. »Wenn sie so weitermacht, wird sie Ärger bekommen. Einige der Leute, die sie verärgert, können gefährlich sein.« Seine dunklen Augen musterten Harry. »Ich bin einer davon.«
Harrys Augen verengten sich. »Ist das eine Drohung?«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen. Sie muß aufhören, Harry.«
Shwe Dagons glitzernde, vergoldete Kuppel ragte in einer Masse weißer, grün und scharlachrot abgesetzter Türme gegen den kobaltblauen Himmel. An ihrem Fuß kauerten gigantische Löwen, grün, scharlachrot und golden lackiert. Schwarze Knollenaugen funkelten über Kiefern, die stumm die Stadt und eine schwatzende Menge menschlicher Affen mit Sonnenschirmen, Kerzen und Blumen anbrüllten. Glücksbriefe lagen auf ihren erstarrten Klauen. Verkäufer von Andenken, Süßigkeiten, Blumen und Gebetsfahnen hasteten zwischen den Pilgern, die zwischen den Reihen der Buden längs dem Aufgang zum Tempeleingang spazierten. Lysistrata beroch den Weihrauch, den Harry gekauft hatte, und rümpfte die Nase. »Er muß wohl stark sein, damit er zu Buddha dringt, aber wir sollten rasch verschwinden, wenn wir ihn angezündet haben.«
»Im Tempel werden Sie sich schnell daran gewöhnen. Sie werden sich über jeden Duft freuen.« Harry bezahlte den Verkäufer und wich dann mit Lysistrata einem Mann aus, der an Bambusstangen rhythmisch gegeneinanderschlagende Käfige mit kreischenden Sittichen und Kakadus trug.
»Warten Sie, Harry.« Sie zog an seinem Arm. »Sehen Sie nur den Grünen! Er hat Koteletten wie mein Onkel Claudius.« Sie pfiff dem Vogel, der seinen gelben Kopf neigte und zurückpfiff. »Kaufen wir ihn, Harry. Ich wollte schon immer ein Haustier haben.«
Harry musterte ihr Gesicht. Sie war zum erstenmal seit Wochen aus, und sie hatte es nötig. Durch Überarbeitung wirkte sie blaß und ausgemergelt. Sie trug den gleichen glatten, dunklen Longyi Rock wie die Birmanen im Royal Hospital. Als er spöttisch gefragt hatte, ob sie zum Ausflug nicht ein passendes europäisches Kleid anlegen wollte, hatte sie gelacht. »Lieber Harry, das brauche ich nicht. Bis auf Sie haben mich meine Ritter verlassen. Sie kümmern sich um Damen, die weniger Wirbel machen. Außerdem habe ich keine Kleider. Lady Mary weigerte sich, für meine gesellschaftliche
Stellung zu bürgen, wenn ich so weitermache. Ich habe ihr die Kleider ihrer Tochter zurückgegeben. Seitdem hat sie nicht mehr mit mir gesprochen.«
»Lysistrata, für ein Haustier haben Sie keine Zeit«, sagte Harry ruhig. »Das wäre doch unfair, oder?«
Sie machte erst ein langes Gesicht, sagte dann aber langsam: »Ich denke, Sie haben recht.« Sie schnalzte dem Vogel zu: »Lebewohl, Claudius.« Der Vogel tanzte im Käfig. Das letzte, was sie von ihm sahen war, daß er wie toll hin und her schwang.
Nachdem sie ihr Blattgoldopfer an die Tempelkuppel geklebt hatten, führte Harry Lysistrata hinein, wo das Gold endete und die Bettler warteten. Gräßliche und mitleiderregende menschliche Gebrechen waren an Böden und an Wänden zu sehen, und die Kreaturen bewegten sich wie Ungeziefer. Jedes Alter, jedes Geschlecht war vertreten. Doch bei vielen war es unmöglich, das Alter oder auch nur Menschlichkeit zu erkennen. Leprakranke faulten im düsteren Kerzenlicht. Elefantiasis schwoll massig über schmalen Treppen. An die Wände gemalte Gliedmaßen von Gottheiten vermittelten die Illusion von Gliedmaßen an lebenden Stummeln, die sich vor ihnen befanden. Der Gestank war unerträglich. Mit einer Hand Nase und Mund bedeckend, taumelte Lysistrata unwillkürlich gegen ihn, um instinktiv ins Sonnenlicht zurückzukehren. Er wollte sie vorbeilassen, aber sie blieb reglos stehen. Trat dann vorwärts. Und drang weiter in das Innere des Ortes vor. Zwischen den Bettlern schwebten Pilger wie auf himmlischen Wolken, so entfernt waren sie durch Gesundheit und Glückseligkeit von den erbärmlichen Bewohnern dieser Unterwelt von Krankheit und Unterernährung. In der Mitte ragte ein riesiger, ewig träumender Buddha auf, der in einem von Tausenden von Kerzen erzeugten Lichterschein schwebte.
Lysistrata steckte eine Kerze zu den anderen und kniete. Als sie sich schließlich erhob, sah Harry, daß ihr Gesicht im Kerzenschein tränenfeucht war. Sie blickte in die Schatten, wo
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