rank und schlank und rattenscharf
nach, schreibe aber nicht zurück. Sonntag?
- Meine Sachen sind heute Morgen wieder pitschnass, vielleicht empfinde ich es wesentlich deutlicher als vorher. Ich habe die letzten zwei Nächte in einem Bett geschlafen; ich werde anspruchsvoller und hätte die letzte Nacht auch gerne in einem Bett geschlafen. Eine Dusche hätte ich auch gehabt, aber es sollte nicht sein.
Heute laufen besonders viele Pilger auf dem Weg. Tagelang bin ich mutterseelenallein unterwegs gewesen. Ich traf Pilger nur in irgendwelchen Bars oder Miniläden, sonst habe ich keine gesehen. Ich nehme Kira an die Leine und reihe mich in die Pilgerkarawane ein. Bei diesem Ansturm von Pilgern kann ich sie nicht ohne Leine laufen lassen, das ginge nicht gut. Es sind mir zu viele Menschen unterwegs und ich verlasse den Weg. Im nächsten Ort finde ich eine Apotheke und kaufe vier Rollen Verbandsmull und Pflaster. Wir gehen wieder zurück und ich lege Kira vor einer kleinen Kapelle auf einen Steintisch, um ihre Pfote zu versorgen. Ich umwickle ihre Pfote mit einer Mullbinde und anschließend noch mit gelbem Klebeband. Kira kann wieder gut laufen, aber ich möchte jedes Risiko vermeiden. Sie hat ein winziges Loch im Ballen, in dem sich immer wieder kleine Steine festsetzen.
Wir laufen an der Stadtautobahn entlang und müssen sie sogar noch überqueren. — Das soll der Jakobsweg sein? Hier müsste ein Schild stehen: „Pilgerwechsel“ — nicht erst dann, wenn es einer nicht geschafft hat, die Straße heil zu überqueren. Da hätten die Pilger aus zurückliegenden Epochen ihre Schwierigkeiten gehabt.
Ohne Fußgängerampel überquere ich den vierspurigen Highway. Ich blicke auf die Stadt León. Eine riesige Stadt, die muss ich bestimmt komplett durchlaufen, bevor ich wieder auf einsame Wege komme. Vorher muss ich aber erst einmal aus meinen Schuhen und die Socken wechseln. Ich binde Kira vor einem kleinen Geschäft an. Diesmal drohe ich ihr an, wenn sie sich auch nur ein einziges Mal muckst, dass ich sie dann mit meiner Wasserflasche nass spritzen werde, die ich in meiner Hand halte. — Es geht gut, sie hat es verstanden und bleibt ruhig.
Nicht weit von der Hauptstraße entfernt setze ich mich vor ein weißes Gebäude. Ölsardinen, Apfelsinen, Tomaten, Baguette, Zwiebel, für Kira natürlich wieder Wiener Würstchen. Ein junges Mädchen und ein junger Mann kommen in weißer Arbeitskleidung aus dem Gebäude. Mein gesamtes Essen liegt ausgebreitet auf der Bank. Was mögen die von mir denken? Das ist bestimmt ein Penner mit seinem Hund. — Ich sitze vor der ÜBL, einer Lehrwerkstatt für Handwerker und müsste mal aufs stille Örtchen. Unterwegs in der freien Natur war das kein Problem, aber mitten in der Stadt — und mit Hund — ein riesiges. Ich binde Kira an die Bank, in der Hoffnung, dass keiner der Jugendlichen sie streichelt, und gehe ins Gebäude. An der Anmeldung sitzt eine Frau, so um die vierzig, hinter einer Glasscheibe mit Sprechöffnung. — Wie erkläre ich der Frau, dass ich für eine längere Sitzung aufs Klo muss? — Ich versuche, der Frau mein Problem zu erklären: „Gute Frau, ich müsste mal die Toilette aufsuchen.“ — Sie versteht mich nicht, kein einziges Wort. Also fange ich von vorne an und erkläre ihr, dass ich Maler bin und aus Deutschland komme. Ich bin auf Pilgerreise auf dem Camino nach Santiago de Compostela und möchte zum Klo. Endlich begreift sie es. Sie erklärt mir wo die Toiletten sind. Vielen Dank. Jetzt wird’s höchste Eisenbahn.
Ich bin wieder bei Kira und es ist zum Glück nichts passiert, ich bin heilfroh. Es hat doch etwas länger gedauert und ich hätte im Gebäude nichts gehört. Wir gehen weiter und laufen weiter Richtung Innenstadt. Plötzlich teilt sich der Weg. Der eine Pfeil zeigt nach links, dort geht es zur Albergue, der andere zeigt nach rechts und geht zur Kathedrale. Ich entscheide mich für rechts und komme in die Altstadt. Dort sehe ich die große Kathedrale schon von weitem. Ich biege in eine kleine Seitenstraße ein und trinke dort im Schatten der hohen Häuser einen Kaffee und eine Cola. Hier ist es schön; der einzige Nachteil ist der Schatten, der für Kira aber sichtlich angenehmer ist als Sonne, denn sie liegt lang ausgestreckt an der Hauswand und schläft. Ich schreibe in meinem Tagebuch. Zwei Frauen kommen, werfen einen flüchtigen Blick auf die Speisekarte an der Wand und gehen weiter. Nach wenigen Minuten kehren sie zurück und setzen sich an einen der vier Tische. Sie
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