rank und schlank und rattenscharf
gleich mehrere Stadtpläne zur Hand und wir schauen gemeinsam auf die Karten. Wir finden gemeinsam die Straße, auf der ich von hier aus weiterlaufen muss.
„Haben Sie noch etwas von Ihrem Freund Willi gehört?“ — „Er ist schon weit vor mir, seine Tagesetappen sind fast doppelt so lang wie meine. Ich laufe zwanzig, er fast vierzig Kilometer.“ — Seine Etappen werden immer länger, meine immer kürzer. Dadurch vergrößert sich unser Abstand täglich. — „Ich habe einmal versucht, mit einem Taxi den Abstand zu verkürzen, aber das geht so nicht, das wird mir viel zu teuer.“ — „Und mit dem Bus oder Zug?“ — „Hunde werden in Spanien nicht mit Bus und Bahn befördert, das ist anders als in Deutschland.“
- Dass er mich im Stich gelassen hat, kann ihre Freundin nicht verstehen. — „Abgemacht war’s nicht, aber was wollen Sie machen?“ — Ich erkläre ihr, dass es das Allerbeste war, was uns Dreien passieren konnte. Somit ist jeder seinen eigenen Weg gegangen, alles andere wäre nur Quälerei geworden und niemals gut gegangen.
Der entscheidende Grund für unsere Trennung waren die unterschiedlichen Vorstellungen. — „Ich quäle mich seit dem dritten Tag mit meinen Blasen vorwärts. Die mangelnden Hygienemöglichkeiten haben mit Sicherheit auch dazu beigetragen. Das schlechte Wetter in den ersten Tagen kam ebenso hinzu. Können Sie sich vorstellen, dass Sie sich auch trennen und jeder allein weiterläuft?“ — „Auf gar keinen Fall, wir bleiben zusammen oder hören gemeinsam auf.“ — Klare Aussage. — „Ach, Sie schaffen das schon.“ — „Wenn nicht, wäre es auch nicht schlimm“, antwortet die Kölnerin. Zum Schluss wollen sie mir einen Stadtplan schenken, aber den brauche ich jetzt nicht mehr. Wir verabschieden uns und wünschen uns alles Gute für den weiteren Weg. „Buen Camino.“
Es geht stadtauswärts. Ich wechsle zwischendurch mal wieder meine Socken und meine Zehen schmerzen immer noch. Gegen Abend unterwandere ich ein Autobahnkreuz. Es geht durch einen langen, dunklen Tunnel, der die Fahrbahnen unterquert. Hier möchte ich ohne Kira nicht durchgehen. Pilgerinnen, die allein unterwegs sind, brauchen an dieser Stelle jede Menge Mut, um hindurch zu laufen. Wo ist es heute noch sicher?
Nach dieser außerordentlichen Mutprobe gehe ich weit ab vom Weg auf eine große Wiese. Im hohen Gras zwischen Sträuchern und Bäumen baue ich mein Zelt völlig abgelegen vom Weg auf. Kaum steht das Zelt, bekomme ich Hunger und Durst. So ein Mist, warum denn jetzt? Warum habe ich nicht vor einigen Stunden in León was gegessen? Da hätte ich mir den Bauch vollschlagen sollen. Hier, wo weit und breit definitiv nichts ist, habe ich Hunger! — In León hatte ich nur etwas getrunken, dann lange den Weg gesucht, bevor ich die Stadt schleunigst verlassen wollte. Vielleicht war ich durch die angespannte Situation in der Stadt zu sehr abgelenkt von meinen Bedürfnissen.
Ich höre und sehe die Autos auf der nahe gelegenen Autobahn. Von hier aus erkenne ich, dass immer wieder Lastwagen abbiegen. Ich kombiniere und bin der Ansicht, dass dort irgendwo ein Rastplatz sein könnte. — Kann ich Kira hier in der freien Natur allein zurück lassen? Soll ich querfeldein zur Autobahn laufen und nachsehen, ob da ein Restaurant ist? — Sicher bin ich mir nicht. Ich denke nach. Was ist, wenn mir etwas zustößt und Kira hier allein bleibt? Wird man sie im Zelt finden? — Schluss jetzt! Zu viele Fragen ohne Antwort. Ich lege mich ins Zelt und schreibe in meinem zweiten Tagebuch, das ich mir vorhin in León gekauft habe. Der leere Bauch tut noch mehr weh als der Ellenbogen, auf den ich mich die ganze Zeit aufstütze. Egal, ich kann es nicht ändern.
In dieser Nacht empfinde ich den Autolärm nicht so störend wie in der vorherigen. Da konnte ich ohne Kopfhörer gar nicht schlafen. Zwei große Passagierflugzeuge fliegen dicht über uns hinweg. In der Nähe muss ein großer Flughafen sein, denn sie sind im Landeanflug, aber auch die stören mich nicht. Hungrig einschlafen ist schlimmer als der Lärm!
Am nächsten Morgen werde ich kurz vor acht wach. Es sieht heute wieder sehr nach Regen aus. Das heißt: Schnell raus und packen, noch bevor es Regen gibt. Es sind schon einige Pilger auf dem Weg, als wir uns einreihen. Der Hunger ist nach wie vor vorhanden und wir laufen noch eine ganze Stunde, bevor wir die nächste Bar erreichen. Ich frage die freundlich aussehende Bedienung, ob sie meine
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