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Raphael

Raphael

Titel: Raphael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathilda Grace
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sich vor mich hinhockt und mir einen wissenden Blick zuwirft. Wenn Raphael Lunte gerochen hat oder sich einbildet, es getan zu haben, führt er sich im Allgemeinen auf, wie ein Hund mit seinem Lieblingsknochen. Er schnappt zu und lässt nicht mehr locker, bis er weiß, was los ist. Heute kann er sich das sparen, außerdem liest er in mir meistens sowieso, wie in einem offenen Buch.
    „Komm über ihn hinweg. Je schneller, desto besser“, fordert er, was mir ein Kopfschütteln entlockt, bevor ich den Kopf senke und auf den Fußboden starre.
    Es bringt nichts, weiter mit ihm zu diskutieren. Auch wenn Raphael natürlich erkannt hat, worum es mir geht, ich bezweifle, dass er es wirklich verstehen kann. Er ist einfach schon zu alt und abgebrüht. Wer weiß, was er in den letzten Jahrhunderten gesehen hat, dass ihm Dinge wie Schuldgefühle – denn die habe ich, und zwar große – einfach abgehen, genauso wie der tägliche Klatsch in der Zeitung. Für ihn war mein Bruder eine Bedrohung seiner Existenz und ich bin lange genug bei ihm, um zu wissen, was er mit Bedrohungen macht. Aber für mich war Chris mehr und über seinen grausamen Tod werde ich nicht so schnell hinwegkommen. Das sage ich Raphael allerdings nicht, sondern wechsle lieber das Thema.
    „Ich will nicht hier in dieser Wohnung bleiben.“ Nie wieder werde ich freiwillig das Zimmer betreten, in dem mein Bruder ermordet wurde. „Mach, was du willst, aber in das Gästezimmer setze ich keinen Fuß mehr.“
    Raphael stöhnt genervt, dann steht er auf. „Von mir aus. Wenn dir das hilft, ziehen wir eben um. Sonst noch Wünsche?“
    „Deinen Kopf auf einem Tablett“, rutscht mir heraus, bevor ich es verhindern kann, aber dieses Mal bekomme ich keine Abreibung dafür.
    Stattdessen lacht Raphael. „Deswegen wollte ich dich von Anfang an haben. Du hast so viel Leidenschaft in dir, Kleiner.“
    Ich bin erst zweiundzwanzig Jahre alt und ein Nichts gegen Raphael, aber veralbern lasse ich mich von dieser fünfhundert Jahre alten und lebenden Leiche noch lange nicht. Ich sehe zu ihm hoch. „Nicht mal, wenn die Hölle zu Eis gefriert.“
    Raphael sieht mich einen Moment verdutzt an, dann bricht er in Gelächter aus. „Du bist unglaublich, Caine“, erklärt er schließlich grinsend und hält mir seine Hand entgegen. „Komm schon. Steh auf und zieh dich an. Ich möchte dir etwas zeigen.“
    Wo will er denn um diese Zeit hin? Wir können noch nicht nach draußen, es ist helllichter Tag. Scheiße. Genau darum geht es, wird mir klar. Ich ahne, was er jetzt mit mir vorhat. Die längst überfällige Tracht Prügel steht an, und wenn ich Pech habe, macht Raphael daraus gleich eine quälend lange Unterrichtsstunde über die richtigen Verhaltensweisen ihm gegenüber, inklusive ein oder zwei kleinerer Bäder in der Mittagssonne, als Strafe für mein Benehmen.
    Was hat Setjan kurz nach meiner Wandlung gesagt? Vergiss nicht, Caine, erst denken und dann reden. Das wird dir dein Leben mit Raphael leichter machen. Tja, ich hätte früher daran denken sollen. Jetzt ist es zu spät für diese Einsicht.
    Wisst ihr, diese Sache mit dem Vampirdasein mag am Anfang ein großer Spaß sein. Ich habe mich bislang nicht großartig darum gekümmert, was mir die Zukunft bringt, weil sich Raphael seit meiner Wandlung um alles, was meine Person betrifft, gekümmert hat. Aber plötzlich war da Chris und durch meine Dummheit steht Raphael jetzt offenbar vor einer ganzen Menge von Problemen, die ich ihm aufgeladen habe.
    Ich hätte im 'Bizarre' meinen Mund halten sollen. Es wäre besser gewesen, mich zu verstecken, damit mein Bruder mich nicht zu Gesicht bekommt. Dann könnte ich mich jetzt weiter über Raphael ärgern, mich dabei wie ein dummes Kind benehmen und Setjan mit tausenden und mehr Fragen über seine alten Zeiten löchern. Aber diese Option gibt es nicht mehr. Dafür habe ich gesorgt.
    Ich versinke gerade im schönsten Selbstmitleid. Wie ich das hasse. Langsam sollte ich wirklich mal erwachsen werden. So hatte ich mir das zwar nicht vorgestellt, aber in gewisser Weise hat Chris' Tod mir die Augen geöffnet.
     
     

 
     
    4
     
     
    „Wo sind wir?“, will ich zwölf Stunden später wissen, nachdem Raphael den geklauten Wagen geparkt hat und ausgestiegen ist.
    Ich mache es ihm nach und blicke mich um. Vor uns befindet sich ein kleiner Stadtpark. Er ist schmutzig und ungepflegt. Einige Meter rechts von mir liegt ein Penner schnarchend auf einer alten Parkbank, die den Anschein erweckt,

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