Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Mineralwasser aus der Kühlung. »Du, Claudia, kennst du Pferdefranz?«
Sie lachte. »Nein. Willst du ein Pferd kaufen?«
»Eher einen Haarschnitt.«
In Claudias Gesicht spiegelten sich deutlich Gedankengänge ab, die einem Verkehrsknotenpunkt zur Feierabendzeit ähnelten. »Hä? Fürs Pferd?«
»Eigentlich für mich.«
»Ach so! Ist der Pferdetyp also Friseur.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das nur wüsste.«
Als Antonio uns auf Deck sah, gesellte er sich dazu. Leger lehnte er sich gegen die Reling. »Was für ein Tag«, stöhnte er, als sei er gerade mit dem Abladen eines Vierzigtonners fertig geworden.
Ich stupste Claudia an. »Männer! Immer am Heulen.«
»Och, lass ihn doch«, begann sie mir in den Rücken zu fallen. »Er hat ja auch die Getränkekästen vom Lagerraum geschleppt.«
»Echt?«, fragte ich ironisch. »Und du bist daran nicht zerbrochen?«
Antonio griff kommentarlos nach einer Zigarette, die er hinter sein linkes Ohr gesteckt hatte, und ließ sie geschickt zwischen den Fingern tanzen. »Ach was! Die sind so schwer ja nun auch nicht.«
Stimmt! Gewiss wog das Trinkgeld in seinen Taschen einiges mehr. Dann zündete er die Zigarette an und nahm einen derart kräftigen Zug, dass sich die Glut bis zur Hälftehindurchfraß. Ich betrachtete beeindruckt seinen Glimmstängel, den er elegant bei jedem Wort wie ein Dirigent hin und her schwang.
»Kennst du den Pferdefranz?«, fragte ich fast beiläufig.
Er blickte mich skeptisch an. »Was, wenn ich nein sage? Kommt dann wieder eine Gemeinheit?«
Wow! War ich tatsächlich so eine unausstehliche Ziege, die selbst vor angehenden Schönheitsidealen nicht zurückschreckte? Ich suchte nach einer passenden Antwort, fand aber keine. Antonio musterte mich immer noch fragend, was mich zusätzlich nervös machte. »Dann eben nicht!«, sagte ich und trank einen Schluck Wasser aus der edlen Glasflasche. »Das ist übrigens untersagt«, klugscheißerte Antonio, auf die Flasche in meiner Hand weisend.
»Was? Wasser trinken?«
»Das gute zumindest. Die Getränke fürs Personal stehen links neben der Kühlung. Das sind die grünen Plastikflaschen.«
Ich konnte es nicht fassen. Ich befand mich auf einem Luxusdampfer und sollte minderen Qualitätskram trinken? »Was soll das heißen? Für die Gäste nur das Beste?«
»Genau!«, bestätigte Antonio. »Und fürs Personal die zweite Wahl!«
Claudia, die inzwischen eine Personalflasche geholt hatte, hielt mir das Mineralwasser im Kunststoffmäntelchen entgegen. Ich öffnete sie, vermisste jedoch das typische Zischen, welches Selters oder Limo beim Öffnen eben macht. »Pah, ist das ekelig«, beschwerte ich mich und spuckte das Wasser über die Reling. »Da ist ja nicht mal Kohlensäure drin!«
»Luxus gebührt den Servicekräften nicht«, erklärte Claudia lachend.
Antonio hingegen enthielt sich einer Meinung undmachte auf neutral. Fröhlich vor sich hin pfeifend genoss er den abklingenden Wind, der im Gegensatz zum Vormittag schon wesentlich angenehmer war. Dann lieber Ostfriesentee, eine ganze Thermoskanne voll!
Die zweite Trauergesellschaft betrat das Schiff pünktlich um vierzehn Uhr. Eine kleine Gruppe Menschen, die sich alle zu ähneln schienen. Kalterherberger, so hatte Claudia mir zugetuschelt. Ich verstand nicht. »Hä?«
»Die kommen aus Kalterherberg, einem Eifeldorf am Rande der gesellschaftlichen Provinz.«
»Ach so? Kenne ich nicht.« Wie auch? Wo ich doch über die Grenzen von Berlin nie hinausgekommen war. Aber die Eifel kannte ich aus Urlaubsbüchern und Wanderheften.
»Du kennst echt Kalterherberg nicht?«, hinterfragte Claudia ungläubig.
Ich rutschte instinktiv in mich zusammen. Musste ich das kennen? Saß da vielleicht die Steuereinzugsbehörde oder gar unser Bundespräsident? Claudia feixte vor sich hin, während sie die ersten Gäste begrüßte und an den Tisch geleitete. Ich tat es ihr gleich, war jedoch irritiert. Meine Neugier wuchs wie ein Kürbis, der mich nach und nach von innen zerdrückte. Ich muss das jetzt wissen! Im Vorbeigehen stieß ich sie an. »Was ist mit diesem Kalterherberg? Sag schon!«
»Denen musst du die Speisekarte vorlesen. Und die Rechnung.«
»Wieso das denn?«
»Die empfangen keine Sesamstraße und sind daher in ihrer Sprachentwicklung etwas rückständig, wenn du verstehst.«
Natürlich verstand ich! Ein Völkchen, das wahrscheinlichzum Außenseiter unseres Landes geworden war. Dass es so was wie Analphabeten tatsächlich noch gab, konnte
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