Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Gesicht ziehen könnte, ähnlich den Bankräubern aus alten Karl-May-Büchern. Und während ich noch über die praktischen Seiten eines Baumwolltuches grübelte, überholten mich Ortrud und Claudia mit einem quietschgelben Smart, auf dessen Heckscheibe »Ja zum Biogas« stand. Hinterdrein folgte Antonio auf einem Rennrad. Prima! Von einem motorisierten Öko-Koffer und einem frisierten Drahtesel überholt zu werden, senkte meine Stimmung um etliches.
Die Friedhild schaukelte leicht auf und ab, als ich die Landungsbrücke betrat. Antonio stand auf Deck und rauchte eine Zigarette. Als er mich sah, schnippte er sie ins Wasser und winkte mich heran. »Wo bleibst du denn? Brömme hat schon nach dir gefragt.«
Wo ich bleibe? Ich atmete tief durch. »Tut mir leid! Mein Motorroller fährt eigentlich ja Lichtgeschwindigkeit, aber die Luftfahrtbehörde hat ihn vorgestern gedrosselt.«
Antonio starrte mich fragend an. »Was soll das denn jetzt?«
»Blöde Frage, blöde Antwort«, erwiderte ich patzig und ließ ihn stehen. Drinnen erwartete mich schon Serviceleiter Brömme. Mit grinsendem Gesicht traf er die ersten organisatorischen Vorbereitungen für die anstehende Seebestattung. »Guten Morgen, Frau Waldmann. Unsere Liesel vom Wäschedienst hat Ihnen passende Dienstkleidung in Ihren Spind gehängt. Wenn Sie sich jetzt erst mal umziehen würden …« Er wies mit der Hand zum Personalraum. »… dann erkläre ich Ihnen später Ihren Aufgabenbereich.«
Mit dem Enthusiasmus einer leeren Pfandflasche, die auf dem Weg zum Recycling war, setzte ich mich wortlos in Richtung meiner Matrosenuniform in Bewegung. Für einen Augenblick dachte ich an Richard und sein Angebot. Vielleicht sollte ich ihn noch mal anrufen? Ihn bitten, seinen Ring zum Juwelier zu bringen und mich auszulösen. Und es mir für Lebzeiten aufs Butterbrot schmieren lassen? Nein! Ich verwarf den Gedanken und betrachtete meine neue Dienstkleidung. Dunkelblau mit silbernen Knöpfen, dazu passendes Schuhwerk in Schwarz und so völlig anders als die Kostüme, in die ich sonst schlüpfte. Aber wenigstens war sie dezenter als ein Trachtenkleid auf den Münchner Wiesn, dem Tod sei Dank.
Ein schlechter Scherz
Wer hätte gedacht, dass Hinterbliebene auf einer Seebestattung Witze reißen würden? Und das auch noch während des Totenmahls. Als sei es eine Familienparty mit Bingo-Effekt, nur dass in diesem Fall die Zahlen längst gezogen waren. Die einen erbten, die anderen gingen leer aus. So auch der dicke Unsympath auf Stuhlplatz dreizehn. Er stopfte alles Essbare in sich hinein und bemerkte nicht einmal, dass er fernab jeglicher Tischmanieren war. »He, Sie da«, rief er mir zu. »Ich brauche noch ein Gezapftes.«
Ich lächelte ihm zu. »Tut mir leid, aber wir haben nur Flaschenbier.« Obwohl ich ihm eher zu einem stillen Wasser und Knigge geraten hätte.
»Kein Problem. Hauptsache, die Promille stimmt, und die Rechnung geht auf die gute alte Tante Isolde, die übermorgen Fischfutter ist.« Dabei lachte der Dicke, bis er einen Hustenanfall bekam, bei dem sich sein speckiges Gesicht verfärbte. Dann klopfte er seinem Nachbarn auf die Schulter. »Oder was denkst du, wie schnell sich die Papp-Urne auflöst?«
Wow! Was für ein netter Verwandter, dachte ich schockiert. Und welch Glück für mich, dass mir so was erspart bleiben würde. Ich hatte weder Eltern noch Geschwister. Und Kinder? Die gab es in meiner Lebensplanung schon mal gar nicht. Richard reichte mir vollkommen. Er war Schwester, Bruder und bester Freund zugleich und der wichtigste Mensch in meinem Dasein – meine Familie eben.
»Frau Waldmann, der Toast Hawaii muss raus«, mahnte mich mein Vorgesetzter. »Und das zackig-zackig, an fünfzehn, zweiundzwanzig und dreiundzwanzig.«
Ich nickte, während ich das Bier für den Miesling öffnete. Antonio hatte die besseren Plätze zu bedienen. Er hatte die gut erzogene, aussterbende Generation der Familie erwischt und servierte in aller Ruhe Obsttörtchen mit koffeinfreiem Kaffee. Die älteren Herrschaften bedankten sich jedes Mal mit einer kleinen Spende bei ihm. Trinkgeld? Das will ich auch! Jedoch war mir bewusst, dass ich allerhöchstens Poklapse vom verdorbenen Teil der Hinterbliebenen zu erwarten hätte.
»Bringen Sie gleich noch ein Bier für Wabbel-Walter mit«, schrie der Unhold von Platz dreizehn erneut aus der unästhetischen Ecke der Trauergesellschaft. Dabei tätschelte er seinem wabbeligen Tischnachbarn auf dem Bauch herum. Dieser wehrte sich und
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