Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Versinnbildlichung eines Gottes auf Erden. Selbst mit Lendenschurz als Dschungelheld sah dieser Kerl unglaublich lecker aus. Lecker? Hatte ich den neuzeitlichen Romeo tatsächlich mit lecker, im Sinne von schmackhaft bewertet? Das hatte ich zuvor noch nie getan! Jedenfalls mit keinem menschlichen Wesen, erst recht keinem Mann. Lecker konnten doch allerbestens Richards gefüllte Pastetchen oder eine original Berliner Currywurst sein, aber niemals so ein Macho wie dieser Antonio. Oder etwa doch? Ich war verwirrt und schob die emotionale Überbewertung auf den unterbrochenen Schlaf in dieser Nacht.
Eine Taube klopfte sachte gegen das kleine Fenster des Schlafraumes. Antonio streckte sich und gähnte laut. »Good Morning, Marylin«, rief er dem weißgefiederten Vogel zu.
»Marylin?«, fragte ich noch etwas schlaftrunken. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Antonio ein Taubenliebhaber war.
»Ja! Ist sie nicht wunderschön?«
So so, wunderschön also! Dieses Geflügel da! »Sie ist … na ja, ganz nett. Eben eine Taube«, erwiderte ich eingeschnappt.Ich fühlte mich scheußlich an diesem Morgen ohne Richards Philosophien und Fürworte. Hier war ich nur eine Servicekraft, die mit keiner Besonderheit herausstach. Mit dem Gefühl, zwei Bleifüße zu besitzen, schlurfte ich aus dem Zimmer ins Bad. Ich war ein derart hartes Bett nicht gewohnt und spürte jeden meiner Knochen.
Ortrud stand vorm Spiegel und putzte ihre Zähne. Als sie mich sah, nickte sie mir mit der Zahnbüste im Mund zu. »Na, gut geschlafen?«, fragte sie, nahm einen Schluck Wasser und begann damit zu gurgeln.
»Geht so.«
»Claudia hat Brötchen besorgt und deckt gerade den Frühstückstisch. Magst du Kaffee oder lieber Tee dazu? Ist eine ostfriesische Mischung aus meiner Heimat.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal.« Das Heimweh hatte mich schneller eingeholt als die Schmerzensgeldforderung meines Bratpfannenopfers. Und obwohl ich Tee auf den Tod nicht ausstehen konnte, war es mir völlig einerlei, mit was ich die Rügener Inselbrötchen runterspülte.
Sie lächelte mir freundlich zu. »Okay! Und bummel nicht lange herum. Die ersten Trauergäste kommen heute schon um elf Uhr. Da bleibt uns gerade mal eine Stunde für alle Vorbereitungen an Bord.«
Acht Minuten später saß ich am Küchengemeinschaftstisch und wärmte meine Hände an einer Tasse Tee ostfriesischer Art. Es war kühl an diesem Sonntagmorgen. Die Sonne hatte sich hinter dem wolkenverhangenen Himmel versteckt, der sich wie ein Sargdeckel über das wahrscheinlich kleinste Dorf der Welt gelegt hatte. Niemand außer mir beachtete das Wetter. Ich nahm meinen Eierlöffel und verrührte den Zucker im Tee.
»Das macht man nicht«, mahnte mich Ortrud. »Mantrinkt zuerst den etwas bitteren Tee mit Milch und am Schluss den gesüßten Rest.«
Welchen Sinn hatte das denn? Ich mochte weder das eine noch das andere. Und überhaupt hatte ich keine Lust mich auf regionale Einnahmeverfahren einzulassen. »Ach so«, sagte ich beiläufig, während ich demonstrativ weiterrührte.
»Ist bei uns in Ostfriesland Tradition«, erklärte Ortrud weiter.
»Ich mag ihn lieber mit Kandis«, brachte sich Claudia ein. »Aber hier auf Rügen trinke ich ihn immer wie Ortrud, mit Milch und Zucker.«
Als wenn das irgendwen interessierte! Ich nickte gezwungenermaßen und setzte mein bestes Komparsenlächeln auf. »Ach was? Und du bekommst den überzuckerten Rest ohne Probleme runter?« Wobei überzuckert eindeutig untertrieben war. Glukosekonzentrat mit einem Hauch von Milch und Tee träfe es wohl besser.
»Klar! Du musst dich nur daran gewöhnen.« Claudia lachte und nippte an ihrem Tee. Ihre Augen funkelten unnatürlich für diese Uhrzeit, fast schon etwas glasig, als hätte sie den Zucker mit Kokain verwechselt. Oder die Milch mit Rum?
Nachdem ich das ungewöhnliche Frühstück überstanden hatte, schwang ich mich auf meine Vespa und fuhr die schmale Straße oberhalb des Strandes entlang zum Hafen. Der Wind hatte zugelegt und peitschte die feuchte Meeresluft in mein Gesicht. Ich bereute zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich mir keinen dieser modischen Visierhelme gekauft hatte. Was bei 35 km/h schon weh tat, wäre bei ausgefahrenen 75 km/h eine wahre Gesichtsfolter an der See, wenn auch gewiss mit Jungbrunneneffekt. Ein Facelifting, auf das ich gerne verzichten wollte. Ich überlegte,mir dringend einige inseltaugliche Accessoires zu besorgen. Vor allem ein Tuch, welches ich mir hoch ins
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