Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
Bewegung und kam die Treppe hoch.
»Nicht doch! Bleib unten«, versuchte ich ihn zu stoppen. Aber er blieb hartnäckig und boykottierte sogar meinen Versuch, die Zimmertür zuzusperren. Mit einem Ruck hatte er die alte Betttruhe seines Vaters weggeschoben. »Was soll der Quatsch!«, muffelte er herum. Dann sah er mich an. Jetzt sieht er, wie fett du geworden bist!, setzte meine innere Stimme mir zu. Ich stand wie versteinert da und wartete auf irgendeine Regung in seinem Gesicht. Nach weiteren Sekunden der Stille wurde ich nervös. Ja, was denn nun? Fett oder He-siehst-du-gut-aus?
Stattdessen musterte mich Hendrik. »Dreh dich mal«, forderte er mich auf.
Wahrscheinlich überlegte er, in welche Kategorie er mich einteilen sollte. Fleischig oder wurstig.
»So wie ein Dönerspieß oder was?«, fragte ich keck.
Hendrik lachte, griff in meine speckigen Hüften und hob mich an. »Meinetwegen wie ein Dönerspieß. Hauptsache, ich kann dich anschauen.«
Gefiel ihm tatsächlich, was er sah? Oder machte ihn die Liebe nur blind? Ich genoss seine Nähe, schwang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn. Auf dass er niemals aus seiner Blindheit erwachen sollte …
Vor dem Theater stand eine Traube Menschen. Egal, ich war gut getarnt, so dass mich niemand erkennen konnte in meinem Presswurst-Abendkleid. Und obwohl Hendrik meine Gucci-Sonnenbrille für überzogen hielt, hatte ich eigens dafür den Kuckuck vom Glas gekratzt – natürlich nur für den Theaterbesuch – und mir ein Tuch um den Kopf geschwungen. Jetzt war ich bereit, an Hendriks Seite – der übrigens fantastisch in seinem Anzug aussah –in den Theatersaal zu schweben. Ich blickte mich um, auf der Suche nach den Mädels. Irgendwo mussten sie doch stehen. Plötzlich ein schrilles Kreischen hinter mir. Richard? Ich drehte mich um und wurde von meinem besten Freund fast umgerannt. Er trug ein schillerndes Sakko mit passender Fliege. Dazu eine orangeglänzende Hose. Er sah umwerfend aus! Jedenfalls besser als die meisten Damen hier. Ich ließ Hendrik los und umklammerte Richard. »O Mann, duftest du gut!«, schrie ich fast ebenso hysterisch wie er.
Hendrik sah dem Begrüßungsritual aus sicherer Entfernung zu. Ab und an schüttelte er seinen Kopf. Wahrscheinlich mochte er das Gekreische nicht. Aber ich war einfach so überwältigt, dass mir die Akustik egal war. »Woher wusstest du, dass ich das bin?«, fragte ich Richard, mittlerweile in normaler Lautstärke.
Er ging einen Schritt zurück und musterte mich mit der Hand am Kinn. »Schätzchen …«, begann er wie in alten Zeiten. »Keine Frau schreitet so elegant in einem Abendkleid wie du.«
Hach! Das tat gut! Balsam für die geschundene Seele quasi. Dann trat er vor mich und sang aus Leibeskräften Happy Birthday. Vielleicht sollte ich lieber sagen, er hauchte es im Marilyn-Monroe-Stil, wie peinlich. Wozu die Tarnung, wenn jetzt die gesamte Menschentraube dem vortheaterlichen Straßenschauspiel lauschte? Einige Frauen blickten verliebt zu ihren Männern, in der Hoffnung, dass sie sich ein Beispiel daran nehmen mochten. Andere zückten ihre Taschentücher und tuschelten: Ach, wie rührend. Nur ein Kunstbanause fluchte irgendwas von Schwuchtel-Gesang.
Ich schob meine Sonnenbrille hoch und tupfte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Dass du gekommen bist, ist dasallerschönste Geburtstagsgeschenk«, erklärte ich, berührt von seinem Auftritt. Dann erst sah ich Ortrud, Claudia und Sarah. Ich breitete meine Arme aus. »Kommt her«, sagte ich und drückte meine Familie an mich. Jetzt, wo Richard da war, war sie komplett.
Zwanzig Minuten später saßen wir im Saal des Theaters. Sarah hatte mich im Vorfeld aufs Klo gezerrt und mich dazu überredet, auf einen Stift zu pinkeln. Sie hatte den Schwangerschaftstest auf Ortruds Spiegelschrank entdeckt und mitgebracht. Sonst machst du das doch nie, hatte sie argumentiert. Ich tat ihr den Gefallen und wurde kurz darauf – während des gezielten Pinkelns – von Ortrud wieder herausgerufen, weil sie mir was unheimlich Wichtiges erzählen wollte. Sie meinte, dass während der Aufführung eine Überraschung auf mich warten würde. Eine Überraschung? Erwähnte ich schon, dass ich Überraschungen eigentlich hasse? Ortrud jedenfalls wusste es, was aber nichts an der Überraschung änderte. Mitten während der Vorstellung brach plötzlich die Theatergruppe ihr Schauspiel ab, und ein Mann, der sich als Leiter des Theaters entpuppte, betrat die Bühne. Er ging zum Mikrofon,
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