Rasant und Unwiderstehlich
augenscheinlich schon bessere Zeiten erlebt hatten. Der Tisch war klebrig und musste dringend mal ordentlich geschrubbt werden und die angeschlagenen Stellen im Kaffeegeschirr traten im Tageslicht deutlich hervor.
Zum Unterricht zu gehen, war für Callie an diesem Morgen nicht infrage gekommen. Mr Gaston hatte für heute eine »Überraschung« angekündigt, und Callie war ziemlich sicher, dass es sich um einen Test handelte, nicht um einen Fünfhundert-Dollar-Gutschein für Barneys. Auf keinen Fall konnte man von ihr erwarten, nach der E-Mail von Dekan Marymount irgendwelche lateinischen Vokabeln zu identifizieren. Als sie die Nachricht in ihrem Posteingang entdeckt hatte, war sie kurz voller Hoffnung gewesen, dass Marymount die schuldige Person – sprich: Jenny Humphrey – bereits aufgespürt, der Schule verwiesen und den Fall abgeschlossen hatte. In Gedanken war sie schon dabei, Jennys Teil des Zimmers in Beschlag zu nehmen. Doch als sie herausgefunden hatte, dass sie ebenfalls zu den Verdächtigen in Sachen Scheunenbrand gehörte, wurden ihre Wunschträume, ihre ganzen Schuhe in Jennys Schrank zu verstauen, verdrängt von der albtraumartigen Vorstellung, zu Hause wohnen zu müssen und gezwungen zu sein, mit einem Haufen verrückter Rednecks auf die öffentliche Highschool von Atlanta zu gehen.
»Danke, dass du gekommen bist. Du weißt schon, CoffeeRoasters und Maxwells wären viel zu öffentlich.« Tinsley nahm einen Schluck Cappuccino. Ihr dickes schwarzes Haar war zu einem saloppen Knoten nach hinten gerafft und wurde von einem Paar türkisfarben lackierter Essstäbchen zusammengehalten. Sie trug ein dunkelblaues Minikleid im Matrosenlook, das an allen entscheidenden Stellen eng anlag. An jeder anderen hätte es wie ein nuttiges Halloween-Kostüm ausgesehen, aber nicht an Tinsley. Die sah darin so umwerfend aus wie immer.
Erstaunlich war allerdings, wie wenig sich Callie in den letzten Tagen von ihrer makellos schönen besten Freundin eingeschüchtert fühlte. Trotz des Pickels, der sich über ihrem linken Auge zu bilden drohte, und der geschätzten zwei Pfund Gewichtszunahme, weil sie am Wochenende Bier getrunken und alles aufgegessen hatte, was Easy vor sie hingestellt hatte, fühlte sie sich geborgener und selbstsicherer als jemals zuvor. Sie und Easy liebten sich wieder, sogar noch mehr als vorher, und sie hatten ES tatsächlich gemacht. Es war unglaublich. Wow! Sie kam sich so … erwachsen vor. Ätschebätsche, Carmichael.
»Vielleicht hätte ich mein Wickelkleid von Ella Moss tragen sollen – du weißt schon, das so aussieht, als würde es sich gleich aufwickeln? Es hat bei Dalton funktioniert.« Tinsley lehnte sich in die Nische zurück und lächelte zärtlich zu der Decke mit den altmodischen Blechfliesen hinauf. »Es funktioniert genau genommen immer, bei jedem. Ich fasse es einfach nicht, dass mir Marymount nicht geglaubt hat.«
Callie trank ihren Cappuccino in kleinen Schlückchen.
»Egal.« Tinsley beugte sich wieder vor. »Große Gedanken mach ich mir deswegen jedenfalls nicht.« Sie machte eine Handbewegung, als würde sie eine lästige Fliege wegwedeln. Ihr silberner Anaconda-Ring funkelte im Morgenlicht. » Wir werden nicht rausgeschmissen, so viel kann ich dir garantieren.«
Die Vorstellung, wieder heim nach Atlanta in ihr Zimmer mit dem blassrosa Teppich und dem gruseligen Himmelbett ziehen zu müssen, in das riesige Gouverneurs-Landhaus in der Paces Ferry Road, jagte Callie eine Gänsehaut über den Rücken. Ebenso wie die Vorstellung, jeden Morgen mit ihrer übertrieben zurechtfrisierten Mutter frühstücken zu müssen. »Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte sie besorgt. Sie drückte die Handflächen fest um den Becher und genoss die Wärme, die ihr durch die Haut sickerte. »Marymount muss doch gegen alle von uns was in der Hand haben, wenn er uns als Verdächtige bezeichnet.«
»Er könnte auch bluffen«, meinte Tinsley zuversichtlich und strich sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinters Ohr. »Bluffs hab ich schon millionenfach miterlebt.«
Callie musste sich zwingen, nicht die haselnussbraunen Augen zu verdrehen. Nur weil Tinsleys Pass schon in aller Herren Länder abgestempelt worden war, tat sie so, als sei sie so viel weltgewandter und klüger als alle anderen. Callie hatte das Gefühl, dass hier auch der Grund lag, warum Tinsley sie nicht nach Einzelheiten ihrer neuen Liebesbeziehung mit Easy ausgequetscht hatte – sie wollte es schlicht nicht wissen.
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