Rasant und Unwiderstehlich
Beim Ich gestehe -Spiel war kürzlich ans Licht gekommen, dass Tinsley noch Jungfrau war, und eine Tinsley Carmichael könnte es todsicher nicht ertragen, zu erfahren, dass Callie etwas gemacht hatte, was sie noch nicht gemacht hatte. »Ach ja? Bei welcher Gelegenheit denn zum Beispiel?«
Tinsley kniff die veilchenblauen Augen zusammen und ihre Lippen zuckten in Reaktion auf Callies herausfordernde Frage. »In Filmen.«
Callie kicherte hämisch, leckte sich den Zeigefinger und steckte ihn in den klumpigen braunen Zucker, den sie auf ihrer Untertasse verschüttet hatte.
Tinsley beobachtete sie. »Das ist echt eklig, Callie.« Sie zog die Essstäbchen aus ihrem dunklen Haar und schüttelte es aus, sodass es in Wellen über ihre Schultern fiel. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete sie, dass Callie mit dem Gepansche aufhörte.
»Aber das hier ist kein Film.« Callie spürte, wie ihre Stimme einen weinerlichen Ton annahm. Wenn Tinsley von der Schule flog, was würde passieren? Nichts. Sie würde mit ihrem Vater einfach nach Südafrika abhauen, einen preisgekrönten Dokumentarfilm drehen und George Clooney und Brad Pitt und all den anderen Megastars und Gutmenschen in Cannes und sonst wo die Hand schütteln. Oh, Moment … So etwas hatte sie ja schon mal gemacht! Nur eine wie Tinsley konnte aus Waverly rausfliegen wegen Ecstasy und ein paar Monate später zurückkommen, als wäre nie etwas geschehen. »Weißt du, was mir blüht, wenn ich fliege? Meine Mutter wird mich zum Tode verurteilen.« Callie war sich nicht sicher, ob es in Georgia noch die Todesstrafe gab, aber falls nicht, würde ihre Mutter sie wieder einführen.
Tinsley starrte an Callies Schulter vorbei auf ein Bild an der Wand, das Rhinecliffs Zentrum um 1920 zeigte – das Städtchen sah damals ungefähr so spannend aus wie heute. »Wenn es ein Film wäre, wer würde deine Rolle spielen?«
»Grace Kelley«, antwortete Callie wie aus der Pistole geschossen und reckte den Kopf so, wie sie wohl annahm, dass eine Fürstin von Monaco es tun würde. Sie zupfte den Kragen ihres gerüschten Seidentops von Joie zurecht und sah aus dem Fenster in den klaren blauen Himmel. Ihr Blick war distanziert. »Der Punkt ist doch der, dass die Liste so willkürlich erscheint. Warum steht einer wie Brandon Buchanan drauf und ein Oberkiffkopf wie Alan St. Girard nicht?«
Tinsley schlürfte ihren kalt gewordenen Cappuccino. Sie wusste, warum Callie auf der Liste stand, und Easy – weil sie es vor dem Dekan ausgeplappert hatte, dass die beiden in der Scheune gewesen waren. Nur hatte sie Callie davon nichts erzählt. Sie wusste auch, warum Jenny und Julian auf der Liste standen. Und natürlich wusste sie, warum sie selbst auf der Liste war. Sie war immer noch wütend, weil sie das Treffen mit dem Dekan so vermasselt hatte.
»Hätte ich dich doch zu Marymount begleitet«, seufzte Callie, als könnte sie Tinsleys Gedanken lesen. Nervös wickelte sie eine ihrer rötlich blonden Strähnen um den Finger, den sie eben noch in den Zucker gesteckt hatte. Vermutlich schmierte sie sich nun Zuckerkörner ins Haar. Aber vielleicht gefiel Easy das ja.
»Das wünschte ich mir allerdings auch.« Tinsley kniff erneut die Augen zusammen. Sie hoffte, genau das richtige Quäntchen Schärfe in ihre Stimme gelegt zu haben. Geschah Callie nur ganz recht, nachdem sie sie im Stich gelassen hatte. Die katastrophale Szene im Dienstzimmer des Dekans lief wieder wie ein Film in ihrem Kopf ab. Vielleicht wenn sie sich nicht so stark auf Marymounts unangenehm zusammengewachsene Brauen konzentriert hätte, oder auf ihre bizarre Vorstellung von ihm als Schüler fressenden Habicht, oder auf das Familienfoto …
»Omeingott!« Tinsley setzte sich kerzengerade auf. Callie sah sie verwirrt an, und Tinsley erklärte mit triumphierendem Grinsen: »Ich hab’s!«
»Na, Chloe?« Tinsley rührte mit dem Strohhalm in ihrem Schoko-Milchshake herum. »Wie gefällt’s dir denn bisher in Waverly?«
Ein Tablett mit Gläsern krachte zu Boden, und jeder im Nocturne, dem unlängst eröffneten Vierundzwanzig-Stunden-Restaurant am Ende der Hauptstraße von Rhinecliff, drehte sich um und glotzte. Jeder außer Tinsley. Die ließ die junge Anwärterin nicht aus den Augen, als sei das Mädchen der Schlüssel zum Heil. Tinsley hatte für ihr Vorhaben einen guten Ort ausgewählt, fand Callie. Das Nocturne war so neu, dass es noch nicht auf dem Überwachungsschirm der Waverly-Lehrerschaft war. Gewiss würden die Eulen am
Weitere Kostenlose Bücher