Rasant und Unwiderstehlich
ließ ihre teigige Hand auf Jennys Schulter fallen. Jenny nickte zögernd.
»Leg den Stift weg«, befahl Mrs Silver. Jenny schob den Kohlestift zurück zu den anderen, auf seinen korrekten Platz zwischen 2B und 4B. Seit wann war sie so oberpingelig? »So. Jetzt atme mal tief durch.« Jenny atmete leise ein und aus und hoffte inständig, dass keiner um sie herum dachte, sie bekäme einen Anfall oder so was.
»Nein, nein, nein«, gluckste Mrs Silver. Ihr krauses graues Haar war zu zwei unordentlichen Knoten irgendwo am Hinterkopf zusammengerafft, aber bei jeder Bewegung, die sie machte, lösten sich Strähnen. Die Seepferdchen auf ihrem Minikleid tanzten. »Das war nicht tief genug. Versuch’s noch mal.«
Jenny sah sich verstohlen um. Verlegen atmete sie tief ein und füllte jeden Kubikmillimeter ihrer Lunge mit terpentingetränkter Luft. Sie spürte, wie sich ihr Brustkorb weitete – was sie bei ihrer Oberweite nun wirklich nicht nötig hatte -, aber schon bald spürte sie ein leichtes, sehr belebendes Kribbeln in den Armen und Händen und schließlich im ganzen Körper. Laut stieß sie die Luft aus, und es war ihr egal, ob irgendjemand zusah.
»Das war schon viel, viel besser.« Mrs Silver kicherte vergnügt und stemmte die Hände in die rundlichen Hüften. Sie senkte die Stimme, sodass sich Jenny zu ihr beugen musste, um sie zu verstehen. »Ich möchte, dass du Kontakt zu deinem Unterbewusstsein aufnimmst. Sinn und Zweck dieser Übung ist es, loszulassen und ganz ohne Hemmungen zu zeichnen.« Sie wedelte mit den Händen und zeichnete schemenhafte Figuren in die Luft. »Mach dir keine Gedanken, was daraus wird – wenn du fertig bist, sieht es vielleicht nach gar nichts aus. Ich will nur, dass du loslegst und schaust, was passiert.«
Jenny nickte wieder. Sie hatte Mühe, ihre Gedanken im Zaum zu halten, die in erster Linie um Dekan Marymounts Drohung bei dem Willkommensessen gestern Abend kreisten. Und dann war da noch die Party für die Üblichen Verdächtigen. Zuerst hatte Jenny nicht hingehen wollen. Callie und Easy dabei zuzusehen, wie sie ihre möglicherweise letzte gemeinsame Nacht zelebrierten, weckte in ihr nicht gerade das Bedürfnis, zu feiern … Aber seit der Dekan seine E-Mail verschickt hatte, fühlte sich Jenny auf einmal isoliert. Sie fragte sich, ob die anderen Üblichen Verdächtigen auch jedes Mal so ein beunruhigendes Schweigen spürten, wenn sie einen Raum betraten. Und warum hatte sich Julian bei dem Abendessen gestern nicht zu ihr gesetzt? Sie war so enttäuscht gewesen, als sie ihn weit entfernt am anderen Ende des Saals bei seinen Squash-Kumpels entdeckt hatte. Aber vielleicht hatte er sie einfach nicht rechtzeitig gesehen und sich dann nicht mehr umsetzen können, nachdem Marymount mit seiner Rede angefangen hatte.
»Okay, du bist immer noch nicht entspannt. Lass uns was anderes versuchen. Schließ die Augen.« Mrs Silver legte Jenny eine frisch eingecremte Hand über die Augen. »Gut. Jetzt nimm einen Stift und fange einfach zu zeichnen an. Denk nicht darüber nach. Lass den Stift einfach über das Papier gleiten.«
Jenny war sicher, dass alle zu ihr herüberstarrten, aber sie ließ sich auf die Übung ein. Der Duft von Mrs Silvers Hagebuttenhandcreme stieg ihr in die Nase. Ihr Arm bewegte sich rasch, wie die Nadel eines Lügendetektors in einem Film, wenn der Verdächtige haarsträubende Lügen auftischte. Schon bald fiel ihr Handgelenk in die Bewegung ein, ihre Finger fügten hier ein Detail dazu und dort, während Jenny das Innere ihrer Augenlider wahrnahm. Mrs Silver nahm die Hand von Jennys Gesicht und Jenny ließ die Augen geschlossen. Das Licht, das durch ihre Lider drang, ließ alles rot aussehen.
»Gut«, ermutigte sie Mrs Silver. »Jetzt hast du den Dreh raus. Stell dir vor, dass du dein Gehirn ausschaltest – lass dein Unterbewusstes durch den Stift sprechen. Mach immer weiter, halt die Augen geschlossen, wenn es so besser geht.«
Jenny hörte, wie Mrs Silver sich entfernte, um mit einem anderen Schüler im vorderen Teil des Raumes zu sprechen. Sie schlug die Augen wieder auf, aber statt auf ihr Zeichenblockblatt zu blicken, starrte sie aus den großen Fensterscheiben des Ateliers und beobachtete, wie draußen ein kräftiger Wind durch das leuchtend goldene Laub der Birken fuhr. Es fing zu regnen an und Regentropfen schlugen zusammen mit ein paar abgefallenen Blättern an die Fenster.
Nachdem ziemlich viel Zeit vergangen war, wie es ihr schien, kämpfte sich Jenny
Weitere Kostenlose Bücher