Rasant und Unwiderstehlich
es ihr, dass sie beide Neulinge in Waverly waren. Alle anderen Eulen schienen düstere, verworrene Geschichten mit sich herumzuschleppen. Aber mit Julian war es wie ein Neuanfang.
»Leider wahr. Aber keine Bange, die vier hier reichen.« Julian lächelte und einen Augenblick lang erschien das Grübchen neben seinem linken Mundwinkel. Er nahm eine der Dosen aus dem Plastikgitter und bot sie Jenny an, aber sie schüttelte den Kopf. Dann setzten sie sich auf den harten Boden.
Von draußen drang ein Geräusch herein und Julian fuhr zusammen und sah zum Zelteingang.
»Du bist wohl nervös wegen morgen, oder?« Jenny zog besorgt die Stirn kraus. Sie war froh, dass sie den Grund für sein Unbehagen erkannt hatte. Trotz seiner Feststellung, dass er ja eine süße Freundin als Alibi habe, musste ihn der Gedanke an die Disziplinarversammlung morgen ganz fertigmachen. Er konnte schließlich nicht beweisen, dass er das Feuerzeug schon vorher verloren hatte.
»Ja.« Julian nickte. Sein Blick war abwesend und das Licht der Lavalampen warf unheimliche Schatten über ihre Gesichter.
»Und …« Jenny nahm das Plastikgitter, in dem die Dosen gesteckt hatten, und steckte ihr schmales Handgelenk durch einen der Ringe wie durch einen Armreif. »Was willst du sagen, wenn du nach dem Feuerzeug gefragt wirst?«
Er nahm einen Schluck Bier, dann stellte er die Dose vor sich auf den Boden und zuckte die Schultern. »Die Wahrheit.«
»Und die wäre?« Jenny hatte plötzlich so ein nagendes Gefühl im Bauch.
»Warum erzählst du ihr nicht die Wahrheit? Die ganze Wahrheit?« Jenny wirbelte herum. Tinsley war plötzlich hinter ihnen aufgetaucht. Sie trug eine eng anliegende schwarze L.A.M.B.-Hose und einen hautengen schwarzen Rollkragenpulli von Ogle. Drohend stand sie vor Jenny. Ihre schlanke Figur zeichnete sich gestochen scharf von dem Hintergrund der hellen Zeltwand ab und das Zelt wirkte auf einmal erstickend eng. Das rötliche Licht der Lavalampen huschte über ihre Züge und ließ sie wie eine Ausgeburt der Hölle aussehen.
Warnend sträubten sich Jennys Nackenhaare. »Was meint sie?«, wollte sie wissen. Julian starrte mit wütendem Blick zu Tinsley hinauf. Was passierte da?
Tinsley sah, wie sich das irritierend engelhafte Gesicht von Jenny vor Unruhe verzog. Sie wusste, dass es wahrscheinlich klüger gewesen wäre, Jenny über Julian und sie im Dunkeln zu lassen. Aber als sie gesehen hatte, wie die beiden in das Zelt geschlüpft waren, so ganz vertraut und zusammengehörig, da war es ihr wie mit einem Schlag ins Gesicht wieder bewusst geworden: Sie war mir nichts, dir nichts von einem Neuntklässler sitzen gelassen worden! Für diese vollbusige Pygmäe! Wenigstens stand deren tittenlastige Terrorherrschaft kurz vor dem Aus, ein für alle Mal.
»Julian?« Jenny sah ängstlich zu Julian auf.
»Sag es ihr« , forderte ihn Tinsley zum zweiten Mal auf und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. Julian starrte sie voller Groll an, und einen Moment lang verspürte sie leichte Gewissensbisse – oder vielleicht auch nur Mitleid. Aber mal ehrlich – glaubte er wirklich, er könnte Tinsley Carmichael einfach so abservieren, ohne dafür zu büßen?
Er nahm einen großen Schluck Bier, wie um sich zu stärken, dann wandte er sich an Jenny. »Ich … ich … Tinsley und ich …«
Mehr brauchte er nicht sagen. Diese zwei Wörter – Tinsley und ich – genügten ihr. Sie trafen Jenny mitten ins Herz und tätowierten sich ein. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, ihn zu schlagen. Sie konnte ihm schließlich nicht angewidert eine Ohrfeige verpassen, wie es die Geliebten oder Ehefrauen in Filmen machten – denn sie war im Grunde nicht seine feste Freundin, sie war es nie gewesen.
»Deshalb bist du also vor Dumbarton rumgelungert …« Sie begann, die Puzzleteile zusammenzufügen. Er war nicht dort gewesen, um ihr wie zufällig zu begegnen. Er war dort gewesen, weil er Tinsley treffen wollte. Deshalb hatte er auch zu Ritoli’s, weg vom Campus, gewollt und war heute Abend so nervös gewesen – er hatte Angst gehabt, dass Tinsley sie sehen könnte! Sie war nicht sicher, was sie schmerzlicher traf: dass er mit diesem Teufelsweib Tinsley angebandelt hatte, die drohend vor ihr stand, oder dass er sie angelogen hatte.
»Aber das war vor dir«, versicherte ihr Julian. » Bevor ich dich richtig kennengelernt habe.« Er sah sie eindringlich an, mit flehendem Blick, doch sie hatte das Gefühl, ihn nicht wiederzuerkennen. Er war
Weitere Kostenlose Bücher