Rasheed, Leila
Ravis verächtliche Miene brannte sich ihr ein. Was war William für ein Narr! Sah er nicht, dass er nicht nur ihren Vater, sondern auch sich selbst bloßstellte? Sie schlug die Augen rechtzeitig wieder auf, um zu sehen, wie Douglas Varley sich räusperte und William unterbrach.
»Ich glaube, Lord Westlake wurde in völlig falschem Licht dargestellt«, sagte er.
Ein Gefühl der Dankbarkeit durchflutete Ada und sie lächelte Varley zu, der zu ihr herübersah und ihren Blick auffing. Sie wollte sich zu der Gruppe gesellen und sich an dem Gespräch beteiligen, doch in dem Moment ertönte der Gong, das Signal, sich umzukleiden.
Ada rannte die Treppe so schnell hinauf, dass ihr Kleid um sie aufflog wie eine Wolke. Außer Atem warf sie sich von innen gegen ihre Tür und riss sich die Handschuhe herunter. Sie faltete den Zettel auseinander. Er zitterte beim Lesen vor ihren Augen.
Ich muss Sie sehen. Ich habe auf der Moldavia überall nach Ihnen gesucht. Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ich muss Sie sehen.
Dann, mit einem leidenschaftlichen, fast zornigen Schwung der Feder:
Nichts in meinem Leben bedeutet mir mehr als jener Abend.
R. S.
Sie las die Nachricht ein ums andere Mal, bis sie endlich begriff. Dann presste sie den Zettel an die Brust. Er verachtete sie nicht. Ganz im Gegenteil. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie hielt das Papier mit beiden Händen umklammert und lief durchs Zimmer. Nichts in meinem Leben bedeutet mir mehr als jener Abend. Sie stellte sich vor den Spiegel und flüsterte die Worte vor sich hin. Er wollte sie sehen … Ihr Lächeln verflog. Das war unmöglich.
Unverzeihlich, dass sie sich einem Fremden gegenüber, einem Ausländer gar, so sehr hatte vergessen können. Wenn sie ihn wiederträfe, würde sie sich nur noch tiefer in Schuld verstricken. Was hätten sie einander schon zu sagen? Sie waren nicht auf der Moldavia , sondern auf Somerton Court, dem Inbegriff alles Respektablen, dem Herz ihrer Familie. Ravis Gönner hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Würden sie bei einem heimlichen Treffen ertappt, bräche über sie beide eine Katastrophe herein. Das einzig Richtige wäre, die Nachricht zu verbrennen und so zu tun, als hätte es sie nie gegeben.
Das Feuer knisterte hinter dem Kaminschirm. Ada faltete den Zettel in ihren Händen immer wieder zusammen und auseinander. Sie starrte in den Spiegel, ohne etwas von ihrem Spiegelbild zu sehen, von dem Brennen in den dunklen Augen oder der Röte auf den Wangen.
Sie sollte ihn nicht treffen. Aber hatte sie nicht die Pflicht, ihm die Unmöglichkeit der Situation auseinanderzusetzen? Somerton Court war ein großes Haus; niemand konnte die ganze Zeit jeden Winkel überwachen. Vielleicht ließe sich doch eine Begegnung einrichten? Aber dafür bräuchte sie Hilfe. Doch wer würde ihr helfen?
Georgiana durfte nichts davon wissen, sie durfte ihre Schwester niemals in etwas so Verwerfliches hineinziehen. Charlotte Templeton – in Ada sträubte sich alles bei dem Gedanken, Charlotte ihre Geheimnisse zu verraten. Ihre Stiefmutter zog sie erst gar nicht in Betracht. Aber sie musste schnell entscheiden. Rose würde gleich kommen, um ihr beim Ankleiden zu helfen, und … Sie hielt inne.
Rose. Seit sie als kleine Mädchen miteinander im Garten gespielt hatten, war vieles anders geworden, aber ihr könnte sie vielleicht vertrauen. Doch das bedeutete, dass sie Rose in alles einweihen müsste, ihr erzählen müsste, was vor sich ging. Bei dieser Vorstellung wurde es Ada flau im Magen.
Ein gewaltiges Risiko. Sollte sie es wagen?
Es klopfte. Ada schrak zusammen. Richtig, es war Zeit, sich zum Dinner umzukleiden.
Sie faltete Ravis Nachricht zusammen, doch statt sie ins Feuer zu werfen, versteckte sie sie in ihrer Schmuckschatulle.
»Herein«, rief sie mit zitternder Stimme.
Rose blieb kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen; sie strich sich die Haare glatt und öffnete Lady Adas Tür. Das Abendlicht schien herein, und einen Augenblick lang glaubte sie, eine der rosa-goldenen Wolken wäre durchs Fenster gesegelt und läge quer über dem Sessel. Dann gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, und sie sah, dass es Lady Adas Abendkleid war.
Lady Ada selbst stand vor dem langen Spiegel und zwirbelte an ihrer Schärpe herum. Ihre schlanken Finger zogen und zerrten an der Seide, als führten sie ein Eigenleben.
Wortlos begann Rose, sie auszukleiden. Vor Aufregung hatte sie Herzklopfen. Zum ersten Mal legte sie einer Dame
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