Rasheed, Leila
Ich habe nur … einen kleinen Abendspaziergang gemacht«, erwiderte Sebastian. Er ärgerte sich, dass er zu dieser beschämend durchsichtigen Lüge gezwungen war. Simons Gesicht blieb unergründlich. Sebastian verbeugte sich knapp vor Lord Fintan und ging weiter.
»Komischer Kerl«, hörte er Lord Finton zu Simon sagen, als er in den Wagen stieg.
»So ist es, Mylord«, antwortete Simon. Sebastian hörte, wie er die Wagentür hinter seinem Herrn zuschlug.
Verdammt, verdammt, verdammt, dachte Sebastian, als er, den Spazierstock schwingend, die Straße entlangging. Mit Simon würde er nicht reden können, so viel stand fest. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er musste etwas unternehmen, und zwar schnell. Aber er hatte fast kein Geld mehr, und es war das Einzige, was bei Simon zog. Sebastian blieb stehen und öffnete unter einer Gaslaterne seine Brieftasche, ohne sich darum zu kümmern, dass es auf den Londoner Straßen von Taschendieben nur so wimmelte. Sie war leer, geradezu mottenzerfressen, bis auf seine Rückfahrkarte nach Oxford – und zwei andere kleine Zettel.
Quittungen von Pfandleihern? Sebastian faltete sie auseinander. Nein, keine Quittungen. Sondern Konzertkarten – und zwar für diesen Abend! Jetzt fiel es ihm wieder ein: Anfang des Jahres, als er kurz nach Erhalt seiner jährlichen Geldzuwendung noch gut bei Kasse war, hatte er zwei Karten für Vronskys Solokonzert in der Albert Hall gekauft, wo der weltberühmte Pianist neben russischen Volksballaden zum allerersten Mal die Klavierfassung von Strawinskys Feuervogel spielen würde. Es war das musikalische Ereignis des Jahres, dem ganz London entgegenfieberte. Die neue russische Musik hatte in letzter Zeit alles geprägt, von der Inneneinrichtung bis zur Mode. Dass Sebastian die Karten ganz vergessen hatte, zeigte, wie sehr ihn seine Sorgen mitnahmen.
Aber er war nicht in Stimmung für Musik. Er wollte die Karten gerade zerreißen, als er plötzlich innehielt. Feuer mit Feuer bekämpfen, hieß es doch. Dass Sebastian Templeton, der weltgewandte Lebemann, dem unaussprechlichen Laster der Griechen frönte, wie sein Dekan es nannte, war schon eine große Skandalgeschichte. Aber vielleicht könnte es eine noch größere geben. Monatelang hatte ihn die Boulevardpresse mit einer jungen Frau aus dem Set verkuppeln wollen. Damals hatte er nur gelacht. Aber was er jetzt brauchte, war genau das: eine Frau. Eine Frau, die ihn ins Konzert begleiten würde, eine Frau, die ihm helfen würde, den Zeitungen eine Geschichte zu liefern, neben der sich Simons Enthüllungen so lächerlich ausnähmen, dass kein Blatt sie mehr würde veröffentlichen wollen. Am besten wäre eine geheimnisvolle Unbekannte. Eine Schönheit. Eine Frau, über die noch nie etwas in der Zeitung gestanden hatte …
»Ada«, sagte er und schnipste mit den Fingern. »Droschke!«
26
Die Sonne schien durch die großen Sprossenfenster von Milborough House und brachte die drei Kleider zum Leuchten, die auf großen Bögen von Seidenpapier über Adas Bett ausgebreitet lagen. Ada war noch in ihrem Nachmittagskleid und lief im Zimmer hin und her wie in einem Käfig.
»Lady Ada, jetzt stehen Sie doch einen Moment still und entscheiden sich, welches Kleid Sie für das Dinner bei den Wellingtons tragen wollen«, flehte Rose.
Ada kam ihrer Bitte widerstrebend nach und betrachtete die Kleider auf dem Bett. Neben dem La Vague hatte sie noch zwei weitere Kleider erstanden. Ihr Lieblingskleid war ein langes, schimmerndes, kunstvoll plissiertes Kleid von Fortuny, das den Namen Delphos trug. Inspiriert vom Mondlicht auf griechischen Marmorruinen, changierte es in einer geheimnisvollen Farbe zwischen Blau und Silber.
»Es hat so einen eleganten Schnitt«, sagte Rose wie ein Echo ihrer Gedanken. »Sie müssten das neue, geradlinige Korsett dazu tragen, Mylady, aber das Kleid wäre sicher passend.«
»Ich weiß nicht …« Ada zögerte. Es war ein schönes Kleid, vielleicht noch schöner als La Vague , aber sie konnte sich jetzt nicht auf Kleider konzentrieren. Ravi wiederzusehen machte sie seltsam nervös. Es war so lange her, seit sie zum letzten Mal voneinander gehört hatten.
»Oder wie wäre es mit diesem wunderbaren Kimonokleid?«, fuhr Rose fort und strich über die bunte Seide des dritten Kleids. »Es ist gewagt, ich weiß, aber die Farben …«
»Sie sind wirklich schön«, stimmte ihr Ada zu. Lebhafte, fernöstlich inspirierte Farben, üppige Stickerei und exotische Schnitte waren der letzte
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