Rasheed, Leila
Leider gab es genug Beweismaterial. Simon war bei so vielen Partys des Sets mit ihm gesehen und fotografiert worden, dass er jede Hoffnung, die Sache einfach aussitzen zu können, begraben musste.
»Sebastian?« Oliver kam herein. Sebastian brachte es nicht fertig, sein zaghaftes Lächeln zu erwidern. Oliver stand in seiner Kammerdieneruniform da, und die erinnerte ihn an Simon. Er hatte Simon vertraut. Was für ein Idiot war er gewesen! Vielleicht konnte man überhaupt niemandem mehr vertrauen.
»Wann ist der Brief gekommen?«
»Gestern. Er wurde unter der Tür durchgeschoben …«
»Gestern! Warum, zum Teufel, hast du mir nichts gesagt?«
Oliver sah ihn erschrocken an und schwieg. Sebastian fluchte.
»Pack meine Sachen. Ich fahre nach London. Allein.«
Falls er erwartet hatte, dass Oliver eine Szene machen würde, wurde er enttäuscht. Oliver zögerte, dann wandte er sich mit undurchdringlichem Gesicht ab. Der perfekte Diener, dachte Sebastian bitter. Perfekt im Verbergen seiner Gefühle, und sicher redete er hinter seinem Rücken. Es war unerträglich. Er rief ihm nach: »Und mach schnell. Ich will mich heute Nacht amüsieren!« Das war kindisch, aber das war ihm egal. Wenn Oliver nur das geringste Gefühl gezeigt hätte, nur eine Spur! Aber er war genauso kalt wie Simon, konnte seine Gefühle offenbar genau wie er an- und abschalten.
Sebastian schnappte den Koffer, ohne Oliver anzusehen, und stürmte hinaus. Wenn er sich beeilte, konnte er noch den letzten Zug nach London erwischen.
25
»Hier«, sagte Sebastian zu dem Kutscher, der sofort mit der Zunge schnalzte und sein Pferd mit einem »Brrr« zum Stehen brachte. Sebastian bezahlte ihn mit seinen letzten Münzen und stieg aus der Droschke in den dämmernden Abend; gerade wurden die Gaslaternen angezündet. Das alte Pferd warf seinen Kopf zurück und trottete davon. Sebastian blieb allein vor Featherstonehaugh House zurück, das sich wie ein Eisberg vor ihm erhob.
Langsam schwante ihm, dass sein Plan nicht wirklich durchdacht war. Vor dem Haus wartete ein Automobil, und Diener in Livree standen an der offenen Tür. Simons Dienstherr war offenbar gerade dabei, das Haus für den Abend zu verlassen. Wie sollte er mit Simon sprechen können, wie hatte er sich das nur vorgestellt? Man konnte wohl kaum das Haus eines Gentlemans aufsuchen und um eine Unterredung mit dessen Kammerdiener bitten. Die Hintertür böte eine Möglichkeit, aber auch dort würden Fragen gestellt …
Während er noch unentschlossen herumstand, trat ein hochgewachsener junger Herr in Abendkleidung, mit Zylinder und Spazierstock aus der Tür, nickte dem Butler zu und eilte die Treppe zu dem wartenden Wagen herunter. Hinter ihm folgte Simon.
Sebastian sog scharf die Luft ein, und bevor er wusste, was er tat, überquerte er die Straße. Als er sich dem Wagen näherte, sah ihn der Mann neugierig an. Sebastian erkannte ihn: Es war Lord Fintan. Der hatte doch auch an der Jagdgesellschaft teilgenommen – natürlich, jetzt wurden Sebastian die Zusammenhänge klar. Er hatte Simon also wirklich dort gesehen, bevor er in die Vase gestürzt war. Es war also keine Einbildung gewesen. Seine Schritte wurden zögerlich – verdammt, das würde jetzt schwierig zu erklären sein –, und er hob mit einem befangenen Lächeln den Hut.
Lord Fintan tippte an den seinen und erwiderte das Lächeln mit einem fragenden Blick.
»Mein lieber Sebastian – Sie sind es doch, nicht wahr? Sind Sie auf der Suche nach mir?«, fragte er. Er klang befremdet, was Sebastian ihm kaum verübeln konnte. Es musste sehr seltsam wirken, wie er so zögerlich herüberkam, so als fürchte er sich davor, gesehen zu werden. Hinter Lord Fintan machte Simon ein überraschtes, argwöhnisches Gesicht, doch nach einem Augenblick gefror es wieder zur undurchdringlichen Maske des professionellen Dieners. Er sah durch Sebastian hindurch.
»Ich …« Sebastian hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Wenn er verneinte, müsste er weitergehen und verpasste die Chance, mit Simon zu sprechen. Wenn er bejahte, müsste er ganz schnell einen Grund aus dem Ärmel schütteln. Schier unmöglich, da er mit Lord Fintan kaum bekannt war und keinen Anlass hatte, mit ihm zu reden.
»Allerdings bin ich schon spät dran für die Verabredung mit den Wellingboroughs …« Lord Fintan deutete auf seine Taschenuhr. »Aber meine Mutter ist zu Hause. Ich bin sicher, sie wäre entzückt, Sie zu sehen.«
Damit war die Sache erledigt. »Nein, vielen Dank.
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