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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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als ob die Antwort in irgendeiner Weise entscheidend wäre.
    »Für einen Entdeckungsreisenden schon«, hatte Carl erwidert, »für jemanden, der die Gebräuche der Eingeborenen erforscht. Aber ich bin Künstler.«
    Ja, er war Künstler und kein Forscher. Aber wo verlief die Grenze? Wenn er allein war, hatte er den Eindruck, auch die einfachsten Fragen nicht mehr beantworten zu können.
    Die innere Diskussion hatte sich von vornherein erübrigt. Er fühlte sich nicht mehr in der gesundheitlichen Verfassung, um einen Winter zu überstehen. Er musste im Herbst mit der Peru wieder nach Hause. Doch Mørks Worte hatten eine weitere Quelle des Zweifels in ihm geöffnet, und zusammen mit all den anderen wurde sie zu einem stetig wachsenden Strom.
     
    S ie blieben vierzehn Tage in Upernavik. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, mal ein wenig darüber, mal ein bisschen darunter. In der Regel blies ein steifer Nordost in die kleine Bucht, in der der Hafen lag. Oft brachte er Regen, dann schlug das Wetter urplötzlich wieder um, und der Regen wurde abgelöst von großen feuchten Schneefocken, die nicht liegen blieben, die feucht glänzenden Basaltfelsen aber noch schwärzer aussehen ließen. Flaute der Wind endlich ab, senkte sich sofort ein undurchdringlicher Nebel über die Bucht. Nur einen einzigen Tag hatten sie ruhiges und klares Wetter.
    Obwohl Upernavik ein Außenposten war, herrschte reges Treiben im Hafen. Ein anderes Schiff der Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft, die Thorvaldsen, war klar zur Abreise, als die Peru an den Kai bugsiert wurde. Es blieb gerade noch Zeit, Briefe und Grüße an Bord zu bringen, bevor das Schiff westlich der kleinen Inseln Nøglen und Hvalfisken, die vor der Passage nach Upernavik lagen, auslief.
    Ein amerikanischer Walfänger aus New Bedford lag bereits auf Reede. An der wuchtigen, mit Zedernholz verstärkten Längsseite schwamm ein Pottwal festgezurrt an der Wasseroberfäche. Carl glaubte sehen zu können, wie das gewaltige Tier noch schwach mit dem Schwanz schlug, aber dabei musste es sich um eine Sinnestäuschung gehandelt haben. Der Wal konnte nicht mehr am Leben sein. Auf Bootsmannsstühlen stehend wurde die Mannschaft die Reling abgefiert. Als sie anfingen, mit langschaftigen Messern die dicke Speckschicht zu zerstückeln, schien gleichsam ein Zittern durch die enorme Fleischmasse zu gehen, das Wasser rund um den Walfänger färbte sich rot vom frischen Blut.
    Von der Peru wurden Tonnen, Fässer und größere Mengen Holz gelöscht, das in der kleinen Kolonie zum Bau neuer Häuser dienen sollte. Außerdem wurden Kohle und Eisen von Bord transportiert. Das Stückgut, das sie in Godhavn geladen hatten, musste vom Hauptladeraum in den Laderaum nach achtern umgestaut werden, um für die Fracht Platz zu schaffen, die in den Lagerhäusern entlang des Piers wartete. Tonnen mit Pelzen und Ballen mit dreitausend Robbenfellen wurden vom Spill ins Schiff gehievt, bis der große Laderaum voller Beweise für das umfassende Robbenschlachten war, das sich entlang der Küste abspielte.
    Carl dachte an die Robbe, die Mørk vor Godhavn geschossen hatte. Hier wiederholte sich das Gemetzel tausendfach. Er blickte hinüber zu dem Walfänger, dessen Besatzung den riesigen Körper zerteilte. An Deck hatten sie die Trankessel angefeuert, und ein beißender Geruch nach Tod breitete sich über dem Hafen aus und setzte sich in den Nasenlöchern fest.
    Es gab nur wenige Dänen in Upernavik. Außer den Männern, die am Hafen des Handelsplatzes arbeiteten, lebte hier nur ein Pastor, der sich der gut hundert eingeborenen Seelen annahm, die in der Gegend überwinterten. Carl war das triste, trübe Wetter leid, und er entschied sich, dem Pastor, der auf den Namen Palladius hörte, zur Abwechslung einen Besuch abzustatten.
    Er wurde im Studierzimmer empfangen, in dem eine abgegriffene Bibel das einzige Buch war, das er sehen konnte. Pastor Palladius hatte einen fammend roten, aufgedunsenen Kopf mit hervorquellenden Augen, deren geplatzte Blutäderchen ihr Delta auf einem gelblichen Hintergrund ausbreiteten, als würde er unter einer permanenten Leberentzündung leiden. Carl wurde seiner Gesellschaft schnell überdrüssig, als er begriff, dass der Pastor eher einen Saufkumpan als einen gebildeten Gesprächspartner suchte.
    Auf den leeren Bücherregalen stand eine Flaschenparade mit füssigen Inhalten in unterschiedlich blassen Nuancen. Es handelte sich um Branntwein. Um den Geschmack zu variieren,

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